Zwischen den Welten

Er liebt die Geschichte, ist im Jetzt zu Hause und entwirft für die Zukunft. Seine Arbeit oszilliert zwischen Architektur, Design, Kunst. Der Mailänder Architekt Hannes Peer kennt keine Berührungsängste.

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Nahe der Porta Romana im Süden Mailands fand Hannes Peer vor ein paar Jahren, wonach er lange suchte: einen nicht ganz alltäglichen Ort für sein Architekturbüro. Hier, wo einmal ein Massagesalon eingemietet war, arbeitet der gebürtige Südtiroler heute mit seinem Team wie in einem grossen Wohnzimmer. Und auch wir nehmen Platz zwischen Prototypen, Vintagemöbeln und Kunstobjekten – genau die Mischung, die seine Innenausbauten so einzigartig macht und ihm regelmässig einen Spitzenplatz im Ranking der besten Interior-Designer weltweit einbringt.

Sie kommen gerade aus Neapel zurück. Was haben Sie dort gemacht?

Ich war an der Designmesse Edit Napoli und sass zusammen mit Tom Dixon in einer Jury. Das war mir sehr wichtig. Es gibt in Italien zwar viele Designer, aber nur wenige Plattformen, auf denen sie sich zeigen können.

Was wurde prämiert?

Innovative und nachhaltige Designideen. Zum Beispiel ein Projekt aus Venedig, das aus Glasabfällen einen neuen Werkstoff herstellt.

Auch Sie arbeiten in Murano. Wie kam es dazu?

Ich habe die Insel vor ein paar Jahren wiederentdeckt. Als Kind bin ich immer mit meiner Mutter, der Künstlerin Ursula Huber, dorthin gereist. Wir waren zusammen auch beim Erfinder von Studioglas, Harvey K. Littleton, in Oregon, und ich durfte Bertil Vallien zuschauen, wie er in Ebeltoft in Dänemark seine Glasboote gegossen hat. Das sind Eindrücke, die ein Leben lang bleiben. Auch die Liebe für das Glas, aus dem ich heute meine Leuchtobjekte herstelle.

Eine schöne Hommage an Ihre Mutter!

Zu den Geschichten aus meiner Kindheit gehört auch die meines Grossvaters. Er hat mir das Tischlern beigebracht. Erst viel später, als ich in Mailand Architektur studierte, habe ich dieses Handwerk in Abendkursen vertieft. So kann ich heute die Prototypen meiner Möbel entwürfe selber bauen.

Arbeiten Sie gern mit den Händen?

Ich liebe vor allem die Arbeit an meiner Kunst aus Leinwand und Holz – Werke, die bis zu sechzig Kilo wiegen können. Bei der Architektur ist es anders. Hier mag ich das Feingefühl und die Möglichkeit, sich in einen Kontext einzudenken. Genau das habe ich am Politecnico di Milano gelernt: recherchieren, analysieren und erst dann machen. Das ist die einzige Herangehensweise, die ich als logisch, praktisch und auch als notwendig empfinde.

Unter Ihrem Instagram-Post zu Neapel stehen nur zwei Worte: Nostalgic Utopia. Was bedeutet das?

Ich habe meiner gesamten Recherche diesen Titel gegeben. Nostalgie steht dafür, dass man sich eine Kultur aneignet und sich in eine Situation hineindenkt – ob urbanistisch, architektonisch oder als Designer. Die Utopie ist der Architektur immanent. Man muss sich nur das Wort «Projekt» anschauen. Es kommt vom lateinischen «proiectum» und bedeutet «das nach vorne Geworfene». Ein Moment ist ja schon vorbei, sobald man ihn erlebt hat. Also ist fast alles Vergangenheit. Der Rest ist Zukunft, eine Utopie.

Sie haben 108 000 Follower. Wann begann Ihre Instagram-Reise?

Vor mehr als zehn Jahren. An Anfang war es nur eine intellektuelle Ablage. Damit war ich einer der ersten Architekten überhaupt. Die Leute wurden auf mich aufmerksam und haben sich schliesslich auch für das Endprodukt interessiert.

Geht es für einen Interior-Designer denn nicht mehr ohne Instagram?

Die Antwort ist wohl Ja. Allerdings ging es mir nie darum, meine Person oder einen Lifestyle darzustellen. Ich will mich nicht als Brand in Szene setzen und auch nicht zum Mainstream werden.

Gilt das auch für Ihre Arbeit als Architekt?

Natürlich. Ich möchte eine Topnische bleiben und versuche, jedes Projekt massgeschneidert anzugehen. Da muss man manchmal auch Nein sagen können. Mein Studio hat vier feste Mitarbeitende. Für grosse Projekte wie zum Beispiel ein Hotel in New York, mit dem wir zurzeit in der Ausführungsplanung sind, hole ich mir Unterstützung. Da arbeiten inzwischen acht freie Architekten und ein Rendering-Studio mit. Gerade erstellen wir auch den Masterplan für ein städtebauliches Projekt in Rom gleich bei den Caracalla-Thermen.

Wie ist Ihre Herangehensweise bei der Kunst?

Das ist noch mal etwas ganz anderes. Ich sehe es wie Joseph Beuys, der sagte, ein Künstler müsse an der sozialen Skulptur arbeiten und nicht für einen Galeristen oder eine Marktlücke. Das bedeutet viel Leid und Entbehrung. Das habe ich bei meiner Mutter gesehen. Wahrscheinlich wollte ich deswegen Architektur studieren und bin erst später auf die Kunst zurückgekommen.

Sie sind sehr vielseitig.

Meine Professoren haben mir immer gesagt, dass man nicht in allen Massstäben arbeiten sollte. Man müsse sich entweder auf den Städtebau, die Architektur oder das Design konzentrieren. Ich lasse mich aber nicht einengen.

Wie war das bei Rem Koolhaas in Rotterdam, wo Sie eine Zeit gearbeitet haben?

Auch bei OMA, dem Office for Metropolitan Architecture, haben wir viel Recherche betrieben und analysiert. Ganz im Gegensatz zu dem, was Koolhaas ein Lebtag gepredigt hat: «Fuck context» war sein Slogan. Hier in Mailand hat er ganz anders gearbeitet. Man braucht sich nur die Fondazione Prada anzusehen, für die er ein altes Industriegelände umfunktioniert hat. Das ist ein wahrer Liebesbrief an den Kontext.

Heute unterrichten Sie selbst an verschiedenen Hochschulen. Was sagen Sie Ihren Studentinnen und Studenten?

Man muss sich unglaublich viel anschauen, man muss in der Welt herumgekommen sein. Da reicht es nicht aus, ein paar Bilder vom Internet zu ziehen. Konstruktionstechniken in Afrika, Maltechniken in Kleinasien, Keramiken in Süditalien, all das soll Teil des Bewusstseins eines Architekten sein. Eine Koexistenz zwischen den Stilen ist möglich. Man muss nur hart genug daran arbeiten. Irgendwann hat man es drauf. Wie ein Tennisspieler, bei dem alles automatisch abläuft.

Welche Vorbilder haben Sie beim Design?

Zum Beispiel Marcel Breuer. Für ihn sollte ein Sessel bequem und praktisch sein – und natürlich verkäuflich. Mir ist es wahnsinnig wichtig, dass die Objekte nicht zu teuer werden. Zum Beispiel nehme ich lieber verleimtes Holz als Massivholz, was zudem nachhaltiger ist. Mein Tisch Butterfly ist so produziert. Auch dieser Stuhl hier besteht aus verklebten Marmorplatten, die eigentlich ein Abfallprodukt sind. Er ist eine Art Designrecherche, bei der ich mit dem Material ans Limit gehen und die Struktur ausreizen kann.

Marmor ist gerade sehr beliebt. Wie modisch darf ein Entwurf sein?

Ich finde es problematisch, wenn Designer einer Mode nachrennen. Ich möchte lieber echte Klassiker entwerfen. Als ich das zum ersten Mal gesagt habe, meinten die Leute, ich sei aus der Zeit gefallen. Tatsächlich haben sich die Designer früher mehr konzentriert und sich so lange mit einer Sache beschäftigt, bis sie etwas für die Ewigkeit schaffen konnten. Das ist bei der Plywood-Serie von Ray und Charles Eames so und auch bei den Stahlrohrmöbeln von Le Corbusier. Heute gefällt den meisten nur noch, was sie eh schon die ganze Zeit sehen, was ihnen der Algorithmus vorschlägt.

Jetzt sind wir wieder bei Instagram.

Ja. Hier sieht man auch die Ich-Kultur, in der wir alle leben. Jeder Einzelne steht unter enormem Druck und muss schauen, wie er über die Runden kommt. Darum habe ich zum letzten Salone del Mobile ein Kollektiv ins Leben gerufen und fünf Architekten eingeladen, zusammen mit mir auszustellen. Wir treffen uns auch heute noch regelmässig und tauschen uns über unsere Arbeit aus.

Wie viele Stunden pro Tag arbeiten Sie?

Das sage ich hier lieber nicht, sonst macht sich meine Mutter Sorgen. Aber es gibt keinen Architekten, der um fünf Uhr aus dem Office geht. Vielleicht wenn er siebzig oder achtzig Jahre alt ist und schon alles gemacht und verstanden hat. Ich bin in meiner besten Zeit und will diese nutzen. Besonders jetzt, wo die Projekte und die Kunden wirklich interessant werden.

Was ist da bei der Zusammenarbeit wichtig?

Man muss Respekt haben und zuhören, auch wenn es stressig wird. Architektur machen ist nicht wie ein T-Shirt kaufen. Das geht nicht in ein paar Minuten. Oft hat man über Jahre miteinander zu tun.

Eines Ihrer letzten Projekte ist die Casa Ortello in Mailand. Wie war es hier?

Leider war die historische Architektur durch einen früheren Umbau total zerstört. Darum wollte ich dem Ort wieder eine Geschichte einflössen. Ich habe einen Palladiana verlegen lassen, eine Art Terrazzo, wie er im Eingang des Hauses noch vorhanden ist. Die Wände wurden auf Wunsch der Hausherrin mit Birkenholz verkleidet, das mit Mahagonipigmenten dunkel gebeizt ist. Ihrem Mann hingegen, einem leidenschaftlichen Koch, war die Küche wichtig. Sie bekam handpolierte Messingfronten und bildet das goldene Herz der Wohnung.

Sie haben die Bäckerei Signor Lievito mit Motiven von Jean Cocteau ausgemalt, in Ihrer eigenen Wohnung liessen Sie Stuckdecken der Villa Necchi nachbilden. Haben Sie keine Scheu, zu kopieren?

Wenn ich künstlerische oder architektonische Zitate mache, bin ich transparent und benenne sie. Es ist für mich eher eine Hommage als eine Kopie. Selbst Picasso soll einmal gesagt haben: «Gute Künstler kopieren, grosse Künstler stehlen.»

Wie könnte man Ihren Einrichtungsstil beschreiben?

Ich arbeite mit Schichten und lasse gern verschiedene Stilrichtungen und Epochen aufeinanderprallen. Die Spannung, die dadurch entsteht, interessiert mich. Es ist wie bei einem Film von Quentin Tarantino: Verschieden Sequenzen überlagern sich. Man muss einfach seine Urangst – so wie es Freud nennen würde – beiseitelassen. Dann kann man auch Neogotisches oder Barockes mit Modernem verbinden.

Lässt sich denn so ein eigener Stil entwickeln?

Es gibt einen roten Faden, das bescheinigen mir Architekturkritiker immer wieder. Aber meine Handschrift ist nicht immer gleich. Sie entwickelt sich von Projekt zu Projekt weiter. Was bleibt, ist meine Liebe für die Moderne. In Mailand nennen wir diese Phase auch die «anni d’oro» mit Designern wie Gio Ponti, Franco Albini, BBPR oder Piero Portaluppi. Das war eine magische Zeit. Man hat wirklich geglaubt, man könne alles schaffen und die Gesellschaft verändern.

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