Interior-Designerin Kelly Wearstler

Mit Talent gesegnet

Wer kann schon von sich behaupten, einen unverwechselbaren Stil zu haben? Interior-Designerin Kelly Wearstler gelingt es seit siebenundzwanzig Jahren.

Interior-Designerin Kelly Wearstler

Sie ist ein Phänomen und fast schon eine Berühmtheit. 1995 gründete Kelly Wearstler mit 28 Jahren ihr Interior-Design-Studio KWID in Los Angeles. Über das letzte Vierteljahrhundert hat sie einen Stil geschaffen, der sich beständig mit der Zeit und deren Strömungen entwickelte und doch immer ihr eigener geblieben ist. Freiheit sei das wichtigste Prinzip in ihrem Leben, im Privaten wie in ihrer Arbeit, betont die Amerikanerin in Interviews immer wieder. Damit meint sie aber nicht «anything goes». Wearstler, die am Massachusetts College of Art studiert hat, verfügt über dieses feine Sensorium des künstlerischen Genies, das jede Idee mit Seele erfüllt. Dennoch hat die 54-Jährige jene Kunden am liebsten, die eine konkrete Vorstellung davon haben, wie ihr Zuhause aussehen soll. Jedes Interior erzähle eine Geschichte, die Geschichte seiner Bewohner, und die müsse geschrieben werden, wenn es ans Einrichten geht.

Natürlich ist dabei jede Hilfe willkommen, denn einmal ins Möbelhaus zu gehen und alles in einem Rutsch und mit einer Bemusterung abzuwickeln, ist nicht Wearstlers Ding. Ihre Entwürfe sind elektrisierende Mischungen aus diversen Stilrichtungen und Möbeln verschiedener Epochen, aus Materialien, die von Pioniergeist zeugen, und Farbzusammenstellungen, so schmeichelhaft und begehrenswert wie aus einem Schminkkasten.

Manchmal fragt man sich, wie Wearstler das schon seit so vielen Jahren hinbekommt. Nicht nur das Einrichten. Auch ihr Aussehen. Gerade hat sie zusammen mit dem Rotterdamer Künstlerkollektiv Rotganzen eine Kollektion von dahinfliessenden Discokugeln lanciert. Die mit einem glitzernden Spiegelmosaik überzogenen, limitierten Objekte hängen an der Wand oder stülpen sich über Tischkanten. Für das Shooting mit den Schmuckstücken warf Wearstler sich einen silbernen «Naked Dress» über und schlüpfte in passende Zwölf-Zentimeter-High-Heels. Auf den Bildern lehnt sie gegen eine apricotfarbene Wand und sieht aus wie die ältere Schwester von Megan Fox.

Dass sie neben ihrer Karriere noch zwei Jungs grossgezogen hat, mehrere Hunde zu ihrem Haushalt zählt und auch ein Ehemann, mit dem sie zudem beruflich verbunden ist – mehr dazu später –, steht nicht im Kleingeschriebenen. Aber wir sind in Los Angeles. Perfektion hat hier nichts Anrüchiges, und so kann jeder optimieren und inszenieren, wie es ihm gefällt.

Doch Wearstler hat auch eine bodenständige Seite, bevorzugt am Tag bequeme Sneakers und zerrissene Jeans. Im Kofferraum ihres Autos fährt meist irgendein Möbelstück mit, das sie zufällig in einem Antiquitätenladen oder Thrift-Store aufgeladen hat. Stühle sind ihre grosse Leidenschaft. Viele und die in ganz unterschiedlichen Formen, Stilen und Farben kommen bei ihr oft an einem Tisch zusammen, ob in von ihr eingerichteten Privathäusern oder den Hotels, die sie ausstattet.

So lernte Wearstler auch ihren Ehemann Brad Korzen kennen. 1996 beauftragte sie der Immobilienentwickler mit der Einrichtung seines Hauses in den Hollywood Hills. Gleich darauf folgte die Auffrischung des Hotels Avalon in Beverly Hills, das ebenfalls zu Korzens Portfolio gehörte. Bereits hier griff Wearstler hauptsächlich zu Vintagemöbeln. Es waren zumeist nordische Klassiker von Arne Jacobsen und Eero Saarinen oder Mid-Century-Stücke des Amerikaners George Nelson. Die Farbpalette atmete die Sonne Kaliforniens: Gelb-, Orange- und Hellblautöne zu Türkis und Peach. So entstand ein Signature-Look, an dem das «Avalon» bis heute festhält. Die «New York Times» nannte dieses erste grosse öffentliche Projekt einmal einen «verspielten, elegant-überdrehten Entwurf (...), der das Aussehen von Boutiquehotels auf der ganzen Welt veränderte».

Doch damit gab sich die Intrior-Designerin nicht zufrieden. Auch für die Viceroy-Hotels in Palm Springs und Santa Monica schuf sie eine ganz neue Ästhetik. Inspiriert vom üppigen «Hollywood Regency» und den vielen alten Möbel, die in den Nullerjahren die Lagerhäuser der Region füllten, schuf Wearstler eine luxuriöse, fast theatralische Atmosphäre mit eleganten Polstersesseln, zitronengelb und papageiengrün lackierten Oberflächen und üppigen Tapeten. 2002 war ihr Name in aller Munde. Im gleichen Jahr heiratete sie Korzen.

In der Folge richtete Kelly Wearstler nicht nur die Häuser von Gwen Stefani und Cameron Diaz ein. Sie entwarf eine Home-Collection für Bergdorf Goodman und gestaltete das Restaurant sowie die Lounge der New Yorker Filiale des Department-Stores. Seit 2015 arbeitet die Designerin parallel zu ihren Einrichtungsprojekten an einer eigenen Möbel- und Accessoirekollektion. Daneben entstanden Teppiche für The Rug Company, Tapeten, Stoffe und Quasten und Kordeln für Lee Jofa, Schalen und Vasen für Georg Jensen und Wandfarben für Farrow & Ball. Viele ihrer Entwürfe kommen in den eigenen Projekten zum Einsatz, so etwa das brutalistische Sideboard Colina Credenza. Es steht in einem Zimtton in der Lobby des Ende 2021 eröffneten Hotels Proper in Downtown L.A. zwischen South Park und Fashion District. Die Interior-Designerin platzierte dieses markante Möbelstück vor einer historischen Holzvertäfelung – das Hotel ist in einem denkmalgeschützten Backsteingebäude vom Anfang des letzten Jahrhunderts untergebracht – und beauftragte den Künstler Abel Macias, die Wände mit lieblichen Tieren und Pflanzen zu bemalen. Eigenen Aussagen zufolge will Wearstler mit ihrer Einrichtung die kreative Szene im Viertel ansprechen. Dafür brauche es starke Farben und einen sonnigen, von Mexiko, Marokko, Spanien und Portugal inspirierten Stilmix. Der kommt auch in den 148 Zimmern zum Tragen. Ein weiteres wichtiges Detail sind glasierte Wand- und Bodenfliesen in über 130 Varianten. Zwei Suiten sollte man sich für einen Besuch vormerken: Eine wurde in einen historischen, zwei Stockwerke hohen Basketball-Halbplatz integriert, die andere hat einen privaten Pool, der bei der Renovation zum Vorschein kam. Die Zeit vergessen lässt sich aber auch auf der schwarz-weiss geplättelten Dachterrasse mit Pool, Sonnendeck, Restaurant, Bar, Lounge und jeder Menge bepflanzter Terracottatöpfen.

Die private Residenz der Wearstler-Korzen-Familie stammt aus der gleichen Epoche wie das «Proper». Sie gehörte einmal Cubby Broccoli, dem Mann, der die James-Bond-Filme aus der Taufe hob und produzierte. Beim Kauf musste Kelly Wearstler ihm versprechen, dass sie das historische Gebäude von 1926 mit vielen originalen Details nicht abreissen werde. Die Zusage fiel ihr nicht schwer, denn die neoklassizistischen Stuckaturen, die schönen Marmorböden und die massiven Holzarbeiten gefielen ihr besonders. Für das weiss vertäfelte Wohnzimmer mit schwarzem Marmorkamin wählte sie eine zurückhaltende Farbgebung und entschied sich zum einen für Möbel, die Anleihen an den Art déco machen, zum anderen für Designerstücke, die zwar ausgefallen wirken, aber formal schlicht und grafisch daherkommen. Nicht nur die Stoffe und der Teppich tragen konstruktive Muster, auch die Kunst an den Wänden fügt sich in diesen Kontext. Das quadratische Haupthaus ist um einen bepflanzten Innenhof herum gebaut, den man von jedem Zimmer aus sehen kann. Manchmal habe sie darum das Gefühl, in einem Baumhaus zu leben, erzählt die Hausherrin. Die Einrichtung der eigenen vier Wände, die ihr auch als kreatives Laboratorium dienen, würde sich mit jedem Tag weiterentwickeln und die Arbeit daran ihr Auge schulen. Ihr Ziel sei es, eine Assemblage aus Möbeln vergangener Epochen, zeitgenössischem Design und Kunst zu kreieren. Zum Anwesen gehören ein Gäste- und ein Poolhaus, in dem sich einmal ein Kino befand – ausreichend Spielraum für den Schaffensdrang der Designerin, die alle Jahre wieder auf den Hot- und Top-Listen der internationalen Einrichtungsmagazine zu finden ist.

An den Wochenenden disloziert die Familie jeweils in ihr Strandhaus nach Malibu. Es wurde schon x-mal fotografiert und ist vor allem bekannt für sein extravagantes Wohnzimmer mit einer 1970er-Sitzgruppe des italienischen Designerpaars Tobia und Afra Scarpa und einem Holzkabinett, das wie eine expressive kubistische Skulptur aussieht.

Doch während des Lockdowns im letzten Sommer wurde es Wearstler langweilig. Zum Glück konnte sie ein Haus von 1953 am Broad Beach mieten. Seine Struktur aus dunkel gebeiztem Holz mit Schiebetüren aus Reispapier und grossen rahmenlosen Fenstern hatte es ihr gleich angetan. Im eigenen Lager suchte sie die passenden Möbel zusammen, vornehmlich in Braun- und Grüntönen, mit organischen Formen und aus natürlichen Materialien. So weckte sie das Strandhaus aus dem Dornröschenschlaf – und machte ihre Arbeit so gut, dass es inzwischen verkauft worden ist. Doch für Wearstler war das Makeover nicht vergebens. Sie investiere in jedes Projekt gleich und – Sie erahnen es – könne so ihren Stil stetig verfeinern.

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