Anstossen auf Italienisch

Franciacorta, die Noble

Franciacorta hat nichts mit Frankreich zu tun. Trotzdem werden die Weine aus der lombardischen Weinbauregion immer wieder mit jenen aus der Champagne verglichen. Zu Recht?

Anmutig

«Champagner ist einer meiner Lieblingsweine», sagt Maurizio Zanella (67). Wenn Sie von sich behaupten, Sie hätten Ahnung von italienischem Wein, dann müssten Sie ihn kennen. Er ist der Maître des Bulles, der Rausschmeisser der Nachlässigkeit und der grösste Feind der Schaumschlägerei. Marketing und Masse verachtet er. Er liebt das Pure, das Schöne der noblen Weine. Zanella ist Millionenerbe, und er hätte sein Leben mit Motorrädern, Kunst und Kitsch vertrödeln können, stattdessen hat er dem Logistikbusiness seines Vaters eine Abfuhr erteilt und seine Berufung in Frankreich gefunden. Mit der Zeit wurde er zu einem der entscheidenden Reformatoren der italienischen Weinwelt. (Anm. der Red.: Das ist nicht übertrieben.) Ihm verdankt die Franciacorta ihre heutige Reputation, und ja: Das Weingut, das er aufgebaut hat, Ca’ del Bosco, gehört zu den bedeutendsten und eindrücklichsten des Landes. «Das wird uns ruinieren», soll seine Mutter Annamaria Clementi laviert haben, weil Zanella noch minderjährig war und sie die Unterschrift für die Bürgschaft des Kreditvertrages leisten musste. Sie hatte recht. Es wurde teuer. Sehr teuer.

Dieser Abstecher spielt in Erbusco, einem Dörfchen in der Provinz Brescia, durch das die Autobahn A4 von Turin nach Triest führt. Das Ereignisreichste in der Geschichte von Erbusco geschah ohne Zweifel am 5. Juni 2001. Start der sechzehnten Etappe des Giro d’Italia, 142 Kilometer nach Parma. 23 Jahre später ist eine Prosecco-Marke offizieller Sprudelpartner des Giros. Zum Verspritzen wird es reichen. Wenden wir uns dem seriösen Genuss zu. In Italien gibt es drei berühmte Regionen für Schaumweine. Die zahlenmässig relevanteste (über 600 Millionen Flaschen) ist und bleibt die Prosecco-Zone. Die angespanntesten Schaumweine (schlank und mineralisch) stammen aus Trentino (Trentodoc), die rundesten (elegant und fein-fruchtig) aus der Franciacorta. Ja, auch im Piemont, auf Sizilien und Sardinien, in der Toskana und selbst in Kampanien versucht man, Weine zu versekten oder sie in Flaschen einer zweiten Gärung zu unterziehen, wie das für Franciacorta und Trentodoc vorgeschrieben ist. Bei aller Liebe zur Vielfalt – die Franciacorta, deren Gebiet auch als Moränen-Amphitheater des Iseo-Sees bezeichnet wird, bleibt zusammen mit dem Trentodoc wegweisend, was die höchste Qualität in der serienmässigen italienischen Schaumweinproduktion anbelangt.

1564 wurde die autochthone Traubensorte Erbamat, die man heute in der Franciacorta neben Pinot noir, Pinot blanc und Chardonnay für Schaumweine (wieder) verwenden darf, erstmals erwähnt, und die schaumigen Weine der Gegend wurden 1570 zum ersten Mal beschrieben. Die Franciacorta ist also keine neue Erscheinung am Firmament des italienischen Weinbaus, denn sogar das napoleonische Kataster (immer die Franzosen) bescheinigt im Jahr 1821 die Existenz von nahezu tausend Hektar bepflanzten Weinbergen. Das überstieg den damaligen Eigenbedarf bei Weitem und beweist, dass der Wein schon vor über zweihundert Jahren gehandelt wurde. Dass im Jahr 2023 dann 19,5 Millionen Flaschen davon verkauft werden würden und dass der grösste Exportteil (21,8 Prozent) direkt in die Schweiz gelangt, hätte damals niemand gedacht. Erstaunlich, weil man hierzulande wohl nur eine Handvoll Produzentinnen und Produzenten beim Namen kennt. Beispiele? Barone Pizzini (54 ha), Bellavista (207 ha), Guido Berlucchi (515 ha), Freccianera Fratelli Berlucchi (70 ha), Ca’ del Bosco (253 ha), Mosnel (42 ha), Marchesi Antinori Tenuta Montenisa (60 ha), Plozza Ome (7 ha), Villa Franciacorta (38 ha) oder 1701 Franciacorta (10 ha).

Die Produzenten Bellavista, Berlucchi, Barone Pizzini und Ca’ del Bosco darf man sich ruhig etwas genauer anschauen. Sie geniessen Kultstatus und gelten als die Antriebswerke der Entwicklung in der Region. Bei Berlucchi brachte man 1961 die ersten Schaumweine heraus, die in der traditionellen Flaschengärung hergestellt wurden. Der Prototyp der heutigen Franciacorta-Weine! Berlucchi produziert derzeit rund 4,5 Millionen Flaschen davon. Pro Jahr. Seit 1977 prägen die traditionell anmutigen Schaumweine aus dem Hause Bellavista in ihren unverkennbaren Flaschen das Qualitätsstreben der Franciacorta. Und bei Barone Pizzini ist man zu Recht stolz darauf, das erste Weingut der Gegend zu sein, das seit 1997 zertifizierten biologischen Weinbau betreibt. Unbestritten der Biopionier der Region und sicherlich auch mitverantwortlich, dass selbst Player wie Ca’ del Bosco seit 2019 zertifiziert biologischen Weinbau betreiben. «Wir sind keine Heiligen, und es ist profan, aber das wichtigste Asset eines Weinbaubetriebs ist der eigene Boden. Wenn man ihn schrittweise zerstört, ist man ein Idiot», sagt der ein-gangs erwähnte Maurizio Zanella, der Agronomie studiert hat und seine önologischen Kenntnisse einst in Beaune und Bordeaux erlernt hat.

Seine Passion ist die Perfektion. 1979 warb er dafür den renommierten Kellermeister von Dom Pérignon ab – André Dubois. Der Franzose wusste, wie es geht, und stand bis zu seinem Tod im Jahr 1990 der Ca’ del Bosco zur Seite. Zusammen mit Zanella begründete er den Mythos und legte die Grundsteine zur Kunst der Traubenverarbeitung in der Franciacorta. Aber Zanella blieb nie stehen. Er investierte in allen Bereichen nur ins Beste. Weltweit gibt es nur knapp ein Dutzend Weinbaubetriebe, die ihre Trauben vor der Weiterverarbeitung gründlich waschen. Zanella hat die mehrstufigen, langen Waschstrassen bereits 2008 installiert. Er will nur sauberes Traubengut als Ausgangsmaterial in seinem Keller, und alles, was zu Fehltönen oder spontanen Fermentationen führen könnte, schliesst er mit allen Mitteln aus. Bei Ca’ del Bosco ist alles unter Kontrolle. Man riecht es. Der Duft, der nach der Weinlese aus den riesigen Gärtanks strömt, ist verführerisch schön, und genau darum geht es bei Ca’ del Bosco. Frucht, Eleganz und Klarheit. Und ja, auch um Kunst.

Kunstbegeisterte kommen bei einem Besuch auf dem Weingut voll auf ihre Kosten. Die Sammlung ist mehr als beachtenswert, und auch in der technischen Verarbeitung geht Maurizio Zanella in jeder Stufe einen kompromisslosen Schritt weiter als alle anderen in der Region. Die Einblicke hauen jede bele- sene Weinenthusiastin und jeden noch so weit gereisten Weingeek um. Auf der anderen Seite stehen Art und Weise, wie das vermittelt wird: grosses Kino, dieser architektonisch, szenografisch und multisensorisch inszenierte Kellerbesuch. Plötzlich findet man sich zum Beispiel in einer gigantischen, auf dem Kopf stehenden Flasche wieder und fährt mit einem Aufzug (eher einem Abzug) schräg an den über 33 000 beleuchteten, leeren Cuvée-Prestige-Flaschen, die die Innenwand bilden, hinab. 23 Meter unter die Erde. Alles ist eine Sensation, aber nichts überfordert, und neben den vielen Eindrücken tauchen im Hintergrund zum Verarbeitungsprozess passende Geräusche auf, die vom Sound-Designer Riccardo Caspani entworfen wurden. Wenn die Gäste an den historischen Räumen des Kellers vorbeiwandeln und zum Gewölbe gelangen, in dem die Rüttelpulte stehen, zum Beispiel. Die Kellerdecke wird zum Sternenhimmel, aber der Keller selbst, neben allem Hang zur Inszenierung, bleibt funktional. Im Reifungsraum warten ganz unspektakulär vier Millionen Cuvée-Prestige-Flaschen auf die perfekte Reife, und spätestens jetzt wird klar, dass man, wenn man die Franciacorta verstehen möchte, ein bisschen mehr Zeit braucht.

ANNAMARIA CLEMENTI, Ca’ del Bosco, Franciacorta DOCG Riserva, 2015

Definitiv ein Festtagswein und etwas vom Besten, was Italien an flaschengereiftem Schaumwein zu bieten hat. Die Reben dieser Spitzencuvée (Chardonnay, Pinot blanc und Pinot noir) sind im Durchschnitt vierzig Jahre alt. Sechs Monate im Barriquefass ausgebaut und sieben Jahre auf der Feinhefe in der Flasche gereift. Rund, elegant, langlebig und komplex. Fr. 128.–, vergani.ch

BAGNADORE, Barone Pizzini, Franciacorta DOCG, Riserva, Brut Nature

Die Trauben zu dieser Besonderheit werden aufs Sauberste selektioniert, sanft gepresst und sechs Monate im Stahltank und ferner in Eichenholzfässern ausgebaut. Sechzig bis siebzig Monate Flaschenreife auf der Feinhefe. Ohne Dosage abgefüllt. Barone Pizzini ist der Bio-Pionier der Franciacorta. Fr. 70.–, smithandsmith.ch

PALAZZO LANA, Guido Berlucchi, Franciacorta DOCG, Extreme Riserva, Extra Brut, 2011

Berlucchi war 1961 das erste Haus in der Franciacorta, das Schaumweine traditioneller Flaschengärung hergestellt hat. Dieser gut strukturierte und frische Jahrgangswein (100 Prozent Pinot noir) wurde im Stahltank vergoren und in Eichenholzfässern veredelt. Die zweite Gärung dauert mindestens sieben Jahre auf der Feinhefe. Grandios. Fr. 98.–, globalwine.ch.

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