Designerinnen, die mit weiblicher Perspektive entwerfen

Female Gaze

Der Blick auf die Mode und ihr Business hat sich grundlegend gewandelt. Inmitten der stockenden Branche florieren Marken, deren Designerinnen mit weiblicher Perspektive entwerfen.

Chloé

Mode ist Frauensache. Möchte man meinen. Schliesslich richtet sich die Modebranche hauptsächlich an Frauen. Schenkt man den weltweiten Medien indes Glauben, ist das Modebusiness fest in Männerhand. Allerorts wird die Frage aufgeworfen: Warum gibt es so wenig Frauen an der Spitze dieser Industrie?

«Der männliche Blick wird als die Perspektive angesehen, auf die es ankommt», wird Maria Grazia Chiuri, ihres Zeichens Kreativdirektorin von Dior, im «Guardian» zitiert. Gegen diesen anzutreten, hat sich die Italienerin aufs T-Shirt geschrieben, seitdem sie 2016 bei Dior die Bühne betreten hat. Mit ihren Kollektionen erhebt sie die Stimme, um über Weiblichkeit, Feminismus und Werte wie Gemeinschaft und Schwesternschaft zu sprechen. Ein kalkulierter Akt der Rebellion, der ihr nicht zu verdenken ist, reagiert Chiuri doch dabei auf den Zeitgeist, was kulturhistorisch betrachtet schon immer die Aufgabe der Mode war. Und obendrein ist sie die allererste Frau, die die kreative Leitung der Maison innehat. Vor ihr gaben ausschliesslich Männer vor, wie der essenzielle weibliche Dior-Look auszusehen hat. «The stakes are high», würde man neudeutsch jetzt wohl sagen. Der Return on Investment ebenfalls. Die Umsätze bei Dior haben sich seit dem Antritt der taffen Designerin vervielfacht.

Schwesterliche Unterstützung erhält sie von Chemena Kamali, Kreativdirektorin bei Chloé, einem Haus, bei dem es seit jeher um die Perspektive einer Frau auf das, was andere Frauen tragen wollen, geht. Mit ihrer ersten Kollektion für diesen Herbst/ Winter 2024/25 holt Kamali den weichzeichnenden Bohème-Vibe der späten Sieb- zigerjahre zurück in unsere Garderobe. Und mit ihm eine Form des Frauseins, bei der es um ein Gefühl von Freiheit geht, um eine mühelose, natürliche Weiblichkeit, um eine sinnliche Attitüde. Der Kern der Kollektionsaussage: Bewegungsfreiheit, Leichtigkeit, Komfort und Energie. «Ich würde gern mehr weibliche Blickwinkel sehen – wir reden viel darüber, doch was ist moderne Weiblichkeit heute wirklich?», fragt die gebürtige Düsseldorferin in einem Interview mit vogue.com. Die Antwort folgt im gleichen Atemzug. «Für mich hat sie mit weiblicher Energie zu tun, mit dem weiblichen Selbst, damit, ganz authentisch zu sein und seiner Intuition zu vertrauen. Ich wünschte, es gäbe mehr davon. Manchmal hat man das Gefühl, dass die Frauen, über die gesprochen wird, immer noch diese Art von Fantasiefrauen sind, diese Objekte, die weit entfernt sind – oder nur die Vorstellung von einer Frau sind.»

In Bewegung sind nicht nur Kamalis romantische, halbtransparente Laufstegkreationen für Chloé. Auch die Entwürfe anderer Häuser profitieren zusehends vom weiblichen Blickwinkel, dem sogenannten Female Gaze. Der in den Siebzigerjahren entstandene Begriff beschreibt das Konzept der Frauenperspektive in der Kunst, der Literatur, den Medien, der Musik und heute auch in der Mode, wo der Fokus auf Selbstausdruck und Authentizität liegt anstatt auf der Erfüllung männlicher Fantasien. Miuccia Prada darf hier wohl als eine Vorreiterin gelten. Ihre Entwürfe für Prada und Miu Miu hatten oftmals den Ruf, Man-Repeller zu sein, das offensichtlich Schöne zurückzuweisen und das Unperfekte zu zelebrieren. Ihr Blickwinkel gilt in Modekreisen seit langem als das Mass aller Dinge.

Die französische Marke Carven setzt neu ebenfalls auf eine weibliche Sicht, nämlich die von Louise Trotter, die vorher Joseph und Lacoste prägte. Calvin Klein ernannte unlängst die Römerin Veronica Leoni zur neuen kreativen Kraft der Marke. 2023 gehörte sie zu den Finalisten des LVMH Prize for Young Fashion Designers und beschrieb ihren Stil damals gegenüber Vogue als «eine prägnante Sichtweise auf die Weiblichkeit mit Ecken und Kanten». Und die Gerüchte, dass Sarah Burton, Ex-Kreativdirektorin von Alexander McQueen, die kreative Leitung bei Givenchy übernehmen wird, verdichten sich, während wir diese Zeilen schreiben.

Der von den anglo-amerikanischen Medien hochstilisierte Mangel an Designerinnen in der Modewelt, insbesondere in den grossen Luxushäusern, könnte ein vermeintlicher sein. Ist die Corporate-Modewelt für die neue Generation von Designe- rinnen möglicherweise gar nicht mehr so attraktiv? Eine Welt, in der Markencodes eingehalten werden müssen, die man nicht selbst geschrieben hat, in der Merch-Artikel mehr Gewicht haben als das befriedigende Gefühl, einer coolen Gemeinschaft von gleichgesinnten Frauen anzugehören. Welche Frau braucht schon Statussymbole in Form von Logos, die sich Männer ausgedacht haben? Attraktivität sieht anders aus. Sie liegt in der perfekt sitzenden schwarzen Hose, in der Bluse, die exakt das richtige Volumen hat und im Kaschmirpullover, der die Haut sanft streichelt. Das bekommen die Designerinnen mit Bravour hin. Ebenso die differenzierte Selbstdarstellung, nach der sich die jüngeren Verbraucherinnen zusehends sehnen, wie das Branchenportal «The Business of Fashion» in einer Studie schreibt. Was sie tragen, sage etwas über sie aus, geben 69 Prozent der Gen Z in einer Ipsos-Studie an.

In einer übersättigten Welt des Stils sehnen sich viele Menschen nach einem Filter, nach einer unabhängigen Stimme, die ihre Meinung teilt, ohne zu diktieren. Mit diesem Mindset operieren jene Macherinnen, die am Rande der Industrie erfolgreich die Mode bewegen. Gleichzeitig mit ihren Labels haben diese Frauen eine kult-ähnliche Anhängerschaft aufgebaut, die sich mit ihrer Art, wie sie Mode und weibliche Selbstbestimmtheit miteinander verweben, identifiziert. Es sind Designerinnen, die mit ihren Entwürfen eher eine Debatte über gesellschaftliche Normen und Ideen als über Rocklängen anstossen wollen. Im Vordergrund steht das Selbstverständnis der Frau, für die diese Kleider bestimmt sind, und nicht zwingend die Mode selbst. Das ist gut für die Kundinnen, die realitätsbezogene, funktionale und gut gemachte Kleidung wollen. Modeinvestoren aber werden sich die Haare raufen. Nach ihren eigenen Regeln spielt auch Phoebe Philo, die sich mit ihrem neuen gleichnamigen Label weigert, an den Fashion-Weeks teilzunehmen, mit Drops und nicht saisonalen Kollektionen arbeitet, ausschliesslich über den eigenen Onlineshop verkauft und kaum Interviews gibt. Ihr erster Edit, wie sie die Drops bezeichnet, war dennoch innerhalb weniger Minuten ausverkauft. Philos Designs richten sich an eine intellektuelle, moderne Frau. Vor allem aber entwirft sie für sich selbst – ihre Fangemeinde liebt sie dafür nur umso mehr.

«In der Vergangenheit haben wir so viel unglaubliche, transformative Mode von männlichen Designern bekommen, was sicherlich für Gesprächsstoff gesorgt hat. Aber ich könnte tagelang darüber reden, warum sich die Kleidung anders anfühlt, wenn sie von Frauen entworfen wird», sagt Daniella Kallmeyer. Die Amerikanerin habe ihre Marke Kallmeyer gegründet, weil sie keine gut geschnittenen Anzüge für Frauen fand, die weder Rüschen noch diamantbesetzte Knöpfe wollten, erzählt sie in der «New York Times». Die Gesellschaft, so sieht es aus, braucht dringend die Subjektivität und gelebte Erfahrung von Designerinnen, die selbst mitten im Leben stehen und die passende Kleidung dazu entwerfen. Eine Kleidung, die ein aktives Leben berücksichtigt, die mehr Nuancen hat als drei unterschiedliche Muster, übereinander getragen, und die durch ihre subtilen Feinheiten – ja, auch Frauen benötigen ab und an Taschen an ihren Kleidern – überzeugt. Mode, die durch die Linse des weiblichen Blicks betrachtet wird, ist keine Karikatur und auch keine Kleidung für Überfrauen, die zur Begutachtung auf ein Podest gestellt werden – und möglichst ohne Alltag durch das Leben flanieren. Das Hauptanliegen der jungen Generation an Designerinnen ist es, sich einzufühlen und gleichzeitig Respekt zu zeigen. Kurz: Unkomplizierte Kleidung kreieren, die sich persönlich anfühlt und in der Realität verwurzelt ist statt sich Trends anpasst.

«Wenn wir das Patriarchat herausfordern wollen, müssen Frauen mehr über Schwesternschaft und Gemeinschaft sprechen. Echter Feminismus bedeutet, dass Frauen sich gegenseitig unterstützen», sagt Maria Grazia Chiuri. Genau hierin liegt der wertvollste Trumpf der jungen, von Frauen geführten Marken: eine starke und loyale Community, erschaffen durch ein ausgeprägtes Identitätsbewusstsein, vorgelebte Werte, Glaubwürdigkeit und eine beständige Suche nach neuen Wegen, um ihre Vision der Darstellung der Frau zu artikulieren. Wenig wirkt so anziehend.

Diese Modeschöpferinnen kreieren Entwürfe für Frauen, die von ihrer Kleidung verlangen, mehr als reine Zierde zu sein.

Kaum eine andere Marke trifft den Zeitgeist so gekonnt, wie die 2016 von Catherine Holstein gegründete Khaite. In ihren raffinierten und ultramodernen Designs spiegelt sich die Energie und der urbane Stil New Yorks. Ihre puren, messerscharf geschnittenen Hero-Stücke und Basics wurden innert Kürze zum diskreten Zeichen von Coolness für modebewusste und starke Frauen. If you know, you know. Ihre fantastisch proportionierten Entwürfe sind diskret und von erlesener Qualität. Auch wenn ihre Ästhetik mitunter etwas düster und hart anmutet, fühlen sich Frauen zu ihren Schnitten und Materialien hingezogen. Holstein glaubt fest daran, dass alles, was man als Marke braucht, ein grossartiges Produkt sei. Der Rest sei Firlefanz.

Julie Pelipas kreiert ihren eigenen Worten zufolge für jene Badass-Frauen, die wirklich etwas bewirken, sei es in der Politik oder im Unternehmertum. Die ehemalige Fashion Director der ukrainischen «Vogue» versteht ihre Marke Bettter nicht als weiteres Label, das sich mit dem Modewort Nachhaltigkeit schmückt. Bettter steht für ein innovatives System von Upcycling-Technologien. Jedes Kleidungsstück erhält einen Care-Pass mit Informationen über die gesamte Lieferkette. Zusätzlich führt die Marke ein Verzeichnis mit allem, was in den Bettter-Ateliers angewendet wird, um den Kleidungsstücken ein neues Aussehen zu verleihen.

Sacai ist eine der herausragendsten zeitgenössischen Marken Japans. Die Designerin Chitose Abe, die das Handwerk bei Comme des Garçons lernte, beherrscht es perfekt, moderne Romantik mit Funktionalität zu verbinden. Ihre hybriden Designs, bei denen sie unterschiedliche Materialien, Stile und Kleidungsstücke vereint, bringen innovative Looks hervor, die zwischen Strenge und Verspieltheit oszillieren. Die Designs basieren dabei auf vertrauten, alltäglichen Formen. Es ist das Unperfekte, dieser gewollte Bruch, der ihre Entwürfe so einzigartig und begehrenswert macht. Der ihnen Seele und Emotionen verleiht. Indem sie die klassischen weiblichen Codes samplet wie der Rapper seine Reime, liefert Sacai eine Neuinterpretation von Femininität. Das ist auch Marken wie North Face, Nike, Carhartt und Levi’s nicht entgangen. Alle vier lancierten limitierte Kollektionen mit der Japanerin.

Victoria Beckham liebt es körperbetont. Ihre Designs folgen einer schmalen Linie, die den weiblichen Körper elegant inszeniert. Ihre erstaunliche Karriere gibt nicht selten zu diskutieren. Tatsache ist indes, dass sich die Ex-Popsängerin zur erfolgreichen Unternehmerin entwickelt hat, der die Ausstrahlung und das positive Selbstbild der Frau am Herzen liegt. Ihre Mode und auch ihre unverkennbare Beautylinie zielen darauf ab. Sie habe immer versucht, sie selbst zu sein, sagt Beckham. So sehr sie als Person Aufmerksamkeit auf sich zieht, so zurückhaltend präsentieren sich ihre Entwürfe. Dezente Farben betonen den modernen minimalistischen Charakter. Ihr Markenzeichen? Raffinierte Kleider.

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