Im Südwesten Englands liegt eine von Wiesen, Weiden und Obstgärten geprägte Landschaft, die mit einem überraschend urbanen Lebensstil lockt. «Hier sind die schicksten Leute Londons in einer der schönsten Regionen des Landes zu sehen», sagt George Osborne, ehemaliger Schatzkanzler und bekannter Journalist, der ein unter Denkmalschutz stehendes georgianisches Haus im Zentrum von Bruton bewohnt. Doch was heisst schon Zentrum? Bruton besteht eigentlich nur aus einer schmalen Durchfahrtsstrasse – und ist trotzdem ziemlich bekannt. Mal heisst es, dies sei das neue Notting Hill, mal, das nächste Chipping Norton, doch ganz gleich, ob das Dorf mit knapp 3000 Einwohnern mit Londons pittoresken Boho-Vierteln odermit dem In-Dorf der Cotswolds verglichen wird: Bruton ist anders und hat mehr zu bieten. Die sattgrüne Hügellandschaft beginnt gleich hinter der High Street, und man muss sie nur lang genug auf und ab gehen, um dem «schönen George», den Designerinnen Stella McCartney oder Phoebe Philo, dem Fotografen Don McCullin, Regisseurin Sam Taylor-Johnson oder dem Theater- und Musicalproduzenten Sir Cameron Mackintosh über den Weg zu laufen. Sie alle besitzen Häuser in oder um Bruton und leben ganz oder teilweise in Somerset.
See you in Somerset
Grüne Hügel, grasende Schafe, verschlafene Dörfer — Somersets ländliche Idylle war lange ein Geheimtipp. Das hat sich geändert. Bruton, Frome oder Mells gelten als «places to be» für trendbewusste Briten.
Das fast tausend Jahre alte Städtchen mit seinen trutzigen Steinhäusern gilt derzeit als Lieblingsort der britischen Finanz-, Mode- und Kulturelite. Attraktiv sind nicht nur die Gebäude, sondern auch das, was hinter den Türen zu finden ist: Vintage-Mobiliar und Accessoires bei Philo & Philo (Mutter und Schwester der Designerin), architektonisch inspirierte Keramikteller bei Antitaupe, Gartengeräte, rosengemusterte Pyjamas und bestickte Kleider bei Cabbages & Roses. An der High Street stehen auch das «Prickly Pear» mit leckerer Texmex-Küche, «Matt’s Kitchen» mit kreativer World-Cuisine und das Hotel Number One Bruton mit ländlich-exzentrischen Gästezimmern. Letzteres gehört Claudia Waddams, deren Familie aus dem Nachbardorf stammt. «Bruton war bis vor gut zehn Jahren vollkommen unprominent», erzählt sie, «zwar haben hier schon immer interessante Menschen und Künstler gelebt, aber nur Insider wussten davon. Jetzt ist das Dorf hip geworden und Somerset gleich dazu.»
Die Grafschaft Somerset ist gut 200 Kilometer von London entfernt. Im Gegensatz zu den angrenzenden Regionen Dorset und Devon, deren Strandbuchten und Küstendörfer schon lange Urlauber anlocken, schlummerte das landwirtschaftlich geprägte Somerset lange im Dornröschenschlaf. Bekannt ist die Region bestenfalls für Cider und Cheddar und die Mendip Hills, ein von Höhlen durchzogenes Kalksteingebirge, in dem das älteste Menschenskelett des Landes gefunden wurde. Musikfans mag Glastonbury ein Begriff sein. Das dort jeweils am letzten Juniwochenende stattfindende Open-Air-Festival gehört zu den weltweit grössten. In diesem Jahr feierten rund 200 000 Besucher die Auftritte von Dua Lipa, Coldplay, Cyndi Lauper und SZA.
Auch Bruton verdankt seinen noch jungen Ruhm einem Kulturhighlight: Jenseits des Flusses Brue wurde 2014 Hauser & Wirth Somerset eröffnet. Die Schweizer Galeristen Manuela und Iwan Wirth bespielen mit ihrem Kunstzentrum eine Farm aus dem 18. Jahrhundert, das schon weit über eine Million Besucher empfangen hat. Kein Wunder: Die unter Denkmalschutz stehende Farm Durslade mit ihren sorgfältig restaurierten Bauernhäusern beherbergt fünf Galerien, einen fantastischen Hofladen, das lässige Restaurant Roth Bar & Grill und ein in schönstem Shabby Chic eingerichtetes Sechs-Zimmer-Gästehaus. Mit Ausstellungen von Rodney Graham, Louise Bourgeois, Martin Creed oder Henry Moore wurde Bruton fast über Nacht auf die Weltkarte der Top-Kunstorte katapultiert. Noch bis Anfang nächstes Jahr sind hier die grossformatigen Installationen von Phyllida Barlow zu sehen.
Iwan Wirth und seine Frau, die regelmässig als das mächtigste Paar der globalen Kunstszene bezeichnet werden, sind schon 2007 nach Bruton gezogen. Sie verkauften ihre Londoner Residenz an Victoria und David Beckham, richteten sich in einem Bauernhaus mit Feldern drumherum ein und meldeten ihre vier Kinder in den örtlichen Schulen an. «Wir sind eine sehr naturverbundene Familie», erklärt Manuela Wirth, «in Somerset können unsere Kinder angeln und wandern.» Auch die Beckhams sind gelegentlich in Somerset. Sie übernachten dann im «Babington House» und erkunden mit den Hotelrädern die Nachbarschaft. Gesichtet wurden sie etwa im winzigen Dorf Mells, das zu den schönsten des Landes zählt und mit einem der coolsten Pubs der Region punktet.
«The Talbot Inn» residiert in einer historischen Poststation und wirkt mit seinen niedrigen Balkendecken, den dunklen Holzböden und lodernden Kaminen, als hätte sich in den vergangenen 500 Jahren kaum etwas verändert. «Wir verstehen uns als ein traditionelles Pub», sagt Mitinhaber Dan Brod, der mit zwei Partnern die coole Beckford Group mit diversen Lokalen und Hotels gegründet hat. Tatsächlich kommen grosse Portionen Fish and Chips aus der Küche, aber auch gebratener Wolfsbarsch mit Chorizo, Schwarzkohl und Safran-Beurre-blanc. «Die meisten unserer Gäste kommen aus der Umgebung», erzählt Dan Brod. «Sie möchten einfach etwas Leckeres essen.»
Dass es das dort gibt, hat sich herumgesprochen. Nicht nur Mells, sondern die ganze Region ist zu einer Foodie-Destination geworden – auch dank einiger bekannter Londoner Küchenchefs, die aufs Land gezogen sind, weil sie dort besser leben und arbeiten können. Zum Beispiel Merlin Labron-Johnson, der 2015 im Alter von nur 24 Jahren als jüngster britischer Küchenchef einen Michelin-Stern erkocht hat. 2020 eröffnete er in Bruton das Restaurant Osip – ein intimes, schlicht-schönes Farm-to-Table-Lokal ohne feste Speisekarte. «Ich war auf der Suche nach einem Projekt ausserhalb Londons, hatte aber Bruton gar nicht in Betracht gezogen, bis mein Finanzberater den Ort vorschlug», erzählt er.
Ebenfalls aus London kommt die angesehene Gastronomin Margot Henderson. «Ich habe immer von einem Lokal auf dem Land geträumt», sagt sie, «im Laufe der letzten Jahre habe ich wunderbare Momente mit Freunden und Familie in Somerset verbracht, und als ich dann die unglaubliche Anzahl und Qualität der Produzenten und Lieferanten entdeckte, hat sich alles ganz natürlich ergeben.» Ihr vor anderthalb Jahren eröffnetes «Three Horseshoes» befindet sich im Minidorf Batcombe zwischen der mittelalterlichen Kirche und dem Gemeindehaus. Dort locken nun Kalbshackfleisch auf Toast oder eine langsam geschmorte Schweineschulter. Es gibt grosse Salate und herzhafte Fleischpasteten, gegrillte Fische und das aromatische Gemüse ihres Lieblingsgärtners.
Wer sehen möchte, welch grossartige Zutaten Somerset hergibt, geht am Samstag auf den Farmers’ Market in Frome, wo Gurken und Rote Bete, Wildbienenhonig oder Bergamottemarmelade, Cheddar-Ricotta und gesalzene, handgerollte Butter aus der Region verkauft werden. Auch Fromes postkartenhübsche Altstadt lohnt einen Besuch, vor allem das St-Catherine’s-Viertel mit steilen Gassen und kleinen Vintage-Läden, Keramikateliers und dem schicken Restaurant Eight Stony Street. Frome wird regelmässig zu den «best places to live in Britain» gewählt, trotzdem sagen Einheimische gern, das Beste daran sei der Zug nach Bath, der grössten Stadt in Somerset und der einzigen im Vereinigten Königreich, die in ihrer Gesamtheit zum Unesco-Weltkulturerbe gehört.
Zwar mag Bath in vielerlei Hinsicht von der Vergangenheit geprägt sein: Benannt nach den antiken römischen Thermen, bekannt für honigfarbene georgianische Architektur und als Heimat von Jane Austen, der berühmten britischen Schriftstellerin aus der Regency-Zeit. Daneben gibt es aber einen quicklebendigen Alltag und eine junge Kreativszene, die das 80000-Einwohner-Städtchen zu einer spannenden Destination macht. Zu den viel beachteten Läden zählt 8 Holland Street des Interior-Designers Tobias Vernon, der mit seiner unbekümmerten Mischung von Stilen und Epochen für Aufmerksamkeit sorgt. Im verkehrsfreien Durchgang Margaret’s Buildings gleich um die Ecke sitzen Locals bei Cappuccino und Zimtschnecken im Café des Conceptstores Berdoulat. Die Inhaber Patrick und Neri Williams haben drei Etagen mit dunklen Holzmöbeln, blau-weissen Steinguttellern, Leinentischwäsche und Milchkannen gefüllt, die meist nach eigenen Designs von lokalen Handwerkern angefertigt wurden.
Margaret’s Buildings verläuft genau zwischen zwei spektakulären Monumentalbauten – dem sichelförmigen Royal Crescent und dem Circus, einem Ring von prächtigen Stadtpalästen aus dem 18. Jahrhundert. Hier zeigt sich auf kleinsten Raum, was Bath, Bruton und Somerset so spannend macht: die selbstverständliche Mischung von uralt und ganz neu, von königlich-prachtvoll und britisch-skurril, von kreativ und cool. Fast wie London, aber ländlich, friedlich und unglaublich schön.
CHECK-IN
No.15 Great Pulteney, Bath Die hippste Luxusherberge der Stadt bietet 36 ganz unterschiedliche Zimmer mit grossen Kronleuchtern, majestätischen Betten, schönen Bädern und einem Touch britischer Verschrobenheit. DZ ab Fr. 250.-. guesthousehotels.co.uk
Number One Bruton, Bruton Das Gebäude stammt aus dem Mittelalter, es war zuerst eine Pilgerherberge, dann ein Privathaus. Inhaberin Claudia Waddams hat dort ein zauberhaftes B & B eröffnet, mit Kunst- und Designstücken von ihren Freunden. DZ ab Fr. 250.-. numberonebruton.com
The Newt, bei Castle Cary Das palladianische Landherrenhaus gehört einem südafrikanischen Paar, das es ohne überflüssigen Schnickschnack eingerichtet hat. Die 23 Zimmer zeigen eine Mischung aus Alt und Neu, sie sind glamourös und komfortabel. DZ ab Fr. 665.-. thenewtinsomerset.com
Babington House, bei Frome Der 1705 errichtete Landsitz gehört zu den exklusiven Members-only-Soho-Houses, kann aber auch von Nichtmitgliedern gebucht werden. Luxus und Vintage-Shabby-Chic prägen die Einrichtung der Salons und Zimmer. DZ ab Fr. 330.-. sohohouse.com
ESSEN
Beckford Canteen, Bath Der Look ist lässig, die Küche lecker: Auf der Karte stehen lokale Bestseller wie Rarebit (mit Cheddar überbackenes Brot) und gebratene Megrim Sole (Plattfisch) an Harissa-Sauce. Dazu: Leinenservietten, zartgrüne Lederbänke, britischer Sparkling. beckfordcanteen.com
Osip, Bruton Für seine pflanzliche und auf lokal angebau- ten Produkten basierende Küche bekam Merlin Labron-Johnson einen Michelin-Stern. Das Menü wechselt beinahe täglich und besticht durch kreative Zubereitung und schlichte Eleganz. osiprestaurant.com
Roth Bar & Grill, Bruton Das auf Risotto servierte Ragù stammt von Rindern aus eigener Zucht, wie auch die Lämmer für die Würste, die mit Sardellen-Mayo serviert werden. Was im Restaurant von Hauser & Wirth Somerset aus der Küche kommt, ist lokal, nachhaltig und absolut köstlich. rothbarandgrill.co.uk
The Three Hoseshoe, Batcombe Margot Henderson kocht in einem 400 Jahre alten Pub mit Holzbalkendecken, antikem Fliesenboden und Garten. Zum Pint am Tresen stehen Barsnacks bereit, wer richtig essen möchte, darf sich auf Hühner-Estragon-Pastete und Seezunge mit Gribiche freuen. thethreehorseshoesbatcombe.co.uk
The Talbot Inn, Mells Stammgästesitzenam liebsten im lässigen Barraum – der Crispy Chicken Burger mit Sriracha, das gegrillte Angus Sirloin Steak mit Basilikumbutter und die hausgemachten Sorbets sind aber überall gleich gut. talbotinn.com