Unterwegs in Brasilien

Saudade

Brasilien ist Licht und Landschaft, Design und Darstellung, Grossartigkeit und Gefühle.

Rio de Janeiro

Viele Wünsche führen nach Brasilien. Da ist zum Beispiel das Bedürfnis nach warmen Temperaturen im europäischen Winter. Die Sehnsucht, wenig Stoff am Körper zu haben und viel Sand unter den Füssen. Das einmalige Erlebnis eines bunten Karnevals, des grössten Spektakels der Welt. Die Erkundung eines Landes der Superlative – der gewaltige Amazonas-Urwald, der längste Fluss der Welt, Dünen im Norden, Berge im Süden. Die Musik. Die Farben. Die Lebensfreude. Brasilien soll all das sein … und noch viel mehr.

Bloss: Wo fängt man an? Idealerweise bei der Erkenntnis, dass man sich mit wenig zufriedengeben muss – zumindest geografisch. Wer das fünftgrösste Land bereisen will, merkt schnell: Was auf der Weltkarte wie ein Katzensprung aussieht, wird womöglich zwei Inlandflüge oder zwanzig Stunden Autofahrt benötigen. Zu Letzterem wird niemand raten, ganz besonders nicht Brasilianer selbst. Zu gefährlich, zu schlecht die Strassen. Der geplante Roadtrip entlang der Küste hat sich in Kürze zerschlagen. Es gilt, das Abenteuer anderswo zu finden.

Und so finden wir uns nach einem Flug von Zürich nach Natal, einem kurzen Aufenthalt im Kitesurfer-Mekka São Miguel do Gostoso und einer Fahrt im Sand, die mit einem versenkten Buggy endete, in Bahia wieder. Der Blick aus dem Autofenster durch den Bundesstaat verändert sich während acht (!) Stunden genauso wenig wie die Musik, die aus den Lautsprechern des Taxis dröhnt. Das Album des Nationalhelden und «Baile Funk»-Sängers Léo Santana spielt pulsierend in Endlosschleife. Draussen reiht sich Hügel an Hügel, Grünfläche an Grünfläche, Palme an Palme. Hie und da taucht ein Vorort auf, in dem Einheimische vor ihren niedrigen Hütten auf Plastikstühlen sitzen. Ab und an ein Dorf, durch das man einem beladenen SUV mit Tempo zwanzig hinterhertuckert. Man denkt zurück an die kleine Schweiz, in der man in der Hälfte der Zeit das Land durchquert hätte, vorbei an Bergen, Seen und Städten. In Bahia dagegen sind es stundenlang dieselben Umrisse einer wilden Traumlandschaft, hell erleuchtet von kräftigen Sonnenstrahlen.

Unser erstes Ziel ist die Halbinsel Maraú, 370 Kilometer südlich von Salvador. Sie liegt in der drittgrössten Bucht Brasiliens – Regenwald zur einen Seite, Sandstrände zur anderen. Ans Stadtleben ist hier nicht zu denken. Stattdessen lassen sich hinter Bananenblättern grosszügige Anwesen wohlhabender Brasilianer aus Rio de Janeiro und São Paulo erahnen, die den Rückzug ins Naturparadies suchen. Dass uns beim Check-in ins Boutiquehotel Ka Bru eine deutsche Stimme begrüsst, kommt entsprechend unerwartet. Daniela Karagi, die in Griechenland geborene, zwischen Zürich und Brasilien pendelnde Besitzerin, hat mit zwei Hotels und zwei Ferienhäusern in der Region Design-Oasen geschaffen, die europäische Bekannte, vor allem aber auch Inländer anzieht. Am Meer, an einer Lagune, am Fluss oder mitten im Wald liegen die Villen, die wenige Zimmer, viel Privatsphäre und ein atemberaubend schönes Interieur bieten. Karagi hat sie ursprünglich für einen Modedesigner eingerichtet, heute führt sie das Anwesen. Beim Stand-up-Paddeln über den schmalen Rio da Serra und beim Spaziergang durch das ursprüngliche Dorf Barra Grande erscheint dieser Entscheid nur verständlich.

Nach vier Tagen des Tagträumens, des Schlemmens von frischem Ceviche aus der hauseigenen Küche sowie des Aufrechterhaltens der dankbaren Illusion, man befinde sich im eigenen Feriendomizil, gilt es, weiterzuziehen. Dahin, wo die Häuser bunt, der Vibe hippiesk und die Strände am schönsten sein sollen: Trancoso. Es sei Brasiliens bestgehütetes Geheimnis, so die Worte von vielgereisten Trendsettern, ausserdem eine Lieblingsferiendestination von Leonardo DiCaprio, Gisele Bündchen und Beyoncé. Dringt man erstmals zum Quadrado vor – dem zentralen, autofreien Platz mit kleiner Kirche am Ende –, schlurfen einem vorwiegend brasilianische Touristen in Flipflops entgegen, die mit T-Shirt und Shorts bekleidet sind, manche mit einem Surfbrett unter dem Arm. Wäre DiCaprio hier, er würde sich nahtlos einreihen.

Trancoso sei zu dem geworden, was es heute ist, weil es geografisch die Möglichkeit für einen Kleinflughafen bot, wird uns Dr. Michael Rumpf-Gail am nächsten Tag erläutern. Der Besitzer eines Unternehmens für Architekturkeramik war einer der ersten grossen Investoren ins Kleinod Trancoso. Er kaufte einst das Land, auf dem heute etwa die internationale Hotelkette Club Med oder das Luxushotel Fasano thront. Sein grosszügiges Anwesen, auf dem er die meiste Zeit des Jahres verbringt, blickt auf den perfekt präparierten Rasen des Golfplatzes Terravista. Dahinter liegt die Klippe zum türkisblauen Meer. Das beste Grundstück des Landes habe er für sich selbst aufgehoben, sagt Rumpf-Gail.

Beim Cocktail – dem bis dahin besten – im angesagten Hotel Uxua sinniert man darüber, ob Trancoso wohl die natürlich-lässige Jungfräulichkeit von damals eingebüsst hat wie Tulum in Mexiko. Klar, Privatjets und Hollywoodstars bringen eine Vielfalt an hippen Restaurants und Beachklubs mit sich – und die englische Sprache als bisher beste Verständigungsmöglichkeit. Aber eben auch eine gewisse Geziertheit, die unter anderem zur «wohl teuersten Pizza der Welt» geführt hat, wie uns Rumpf-Gail augenzwinkernd mitteilt. Hat Glamour einen Preis? Vielleicht. Wie hoch er ist, entscheidet am Ende des Tages aber auch immer jeder selbst.

Nach fünf Tagen in Trancoso und der Annäherung an fortschreitend mehr Zivilisation sind wir bereit für die Grossstadt. Die Frage aller Fragen hatte sich zwangsläufig schon vor der Reise gestellt: Rio de Janeiro oder São Paulo? Die begrenzte Reisezeit erforderte eine Entscheidung vor Abflug. Der bekannteste Strand der Welt gegen das Wirtschaftszentrum des Landes. Die geografisch schönste Metropole gegen ein riesiges kulturelles und gastronomisches Angebot. Das Rennen war knapp. Rio gewann. Denn: War man überhaupt in Brasilien, ohne hier einen Fuss hingesetzt zu haben? Wir finden: Nein. Und avancieren zu Copacabana, Cariocas und Caipirinhas.

Unser Aufenthalt in Rio de Janeiro fällt auf die Tage kurz vor Karneval. Er ist der «talk of the town». Hotelgäste huschen in glitzernden Röcken vorbei, im Taxi ist keine Fahrt zu kurz und keine Sprachbarriere zu hoch, um das Thema nicht irgendwie aufzugreifen. Eingecheckt in Ipanema, schwingen wir uns auf ein Fahrrad und fahren einen von zwei Blockbusterstränden Rios entlang, bevor wir uns inmitten von Cariocas – so der Name der Bewohner Rios – auf Klappstühlen niederlassen. Ein Nachmittag am Ipanema Beach gleicht einer Filmszene. Da sitzen Jung und Alt, Arm und Reich. Da werden Krabbenspiesse und Kokain kurz nacheinander angeboten. Links eine Gruppe testosterongeladener Teenager, rechts ein dösender, älterer Herr, vorne Körper, die wie aus Stein gemeisselt sind. Und das alles vor der absurd schönen Kulisse von glitzerndem Wasser und stoischen Felsen. Ein Nachmittag am Strand von Rio ist Unterhaltung für alle Sinne.

Was nach einer Woche in Rio de Janeiro bleibt, sind starke Bilder und tiefe Gefühle. Visuell überwältigende Panoramen wie die vom Aussichtspunkt Dois Irmãos, wo sich Meer, Hügel, Wälder und die Sieben-Millionen-Stadt gleichzeitig vor einem auftun. Es ist der Blick vom Hotelbalkon auf die Copacabana, wo sich Hunderte Menschen wie Ameisen auf einem Ameisenhaufen bewegen, die Strassen der Jardim-Botânico-Nachbarschaft, die so grossstädtisch wie tropisch anmuten, genauso wie das Niterói-Museum von Niemeyer, das wie ein Ufo am Wasser steht. Aber auch das Adrenalin, das eine Fahrt auf dem Moto-Taxi durch die Hügel der Favela Vidigal mit sich bringt. Die Ruhe der Stand-up-Paddler, die bei Sonnenaufgang ins Meer rudern. Das pulsierende Leben, wie es sich abends in den Restaurants und Bars abspielt, die mit innovativen Gastronomiekonzepten begeistern. Rio ist mal schnell, mal langsam, mal wild, mal träumerisch, aber immer berührend.

Wir erinnern uns an das portugiesische Wort «saudade»: die Anwesenheit des Abwesenden, die Sehnsucht nach etwas, an das wir uns liebevoll erinnern. Sie ergreift uns, sobald wir auf heimischem Boden landen.

Swiss fliegt ab Zürich siebenmal pro Woche nach São Paulo. Rio de Janeiro oder Natal sind mit einem Zwischenstopp erreichbar. Inlandflüge vorzeitig buchen!

Ka Bru Vier Locations – zwei Boutiquehotels, zwei Ferienhäuser – in wunderschöner Landschaft mit tollem Interior und guter Küche. DZ ab Fr. 230.–. kabrubrazil.com

Casa de Perainda Das familiäre Boutiquehotel im Dorf von Trancoso ist elegant, bodenständig und herzlich. Gefrühstückt wird am Gemeinschaftstisch. DZ ab Fr. 290.–. casadeperainda.com

Fasano Trancoso Das in einem Naturreservat gebaute Fünfsternehotel verfügt über vierzig Bungalows, einen Privatstrand, zwei Restaurants und ein Spa. DZ ab Fr. 550.–. fasano.com.br

Emiliano Rio de Janeiro Das Boutiquehotel bietet tolles Design, einen Rooftop-Pool und direkten Blick auf die Copacabana. DZ ab Fr. 340.–. emiliano.com.br

Koral Das neu eröffnete Restaurant von Küchenchef Pedro Coronha in Ipanema serviert in schicker Atmosphäre lokale Küche, modern interpretiert. @koralrest

Labuta Die Crew um Lucio Vieira führt an drei Standorten in Rio de Janeiro ungezwungene und spannende Gastro­konzepte, die gehobene Snacks und Cocktails in lebhafter Umgebung anbieten. @labuta_braseiro

The Slow Bakery Die Macher dieser Bäckerei sind für die Sauer­teigbewegung in Rio de Janeiro verantwortlich. Empfehlenswert zum Frühstück oder Weekend- Brunch. theslowdigital.com.br

Ginger Kleines, aber charmantes Restaurant mit Bar in einer Gasse unweit des Quadrado in Trancoso, das asiatisches Essen und gute Cocktails serviert. @gingertrancoso

Marau Wer die Reise auf die Halbinsel Maraú auf sich nimmt, braucht etwas Geduld, wird aber mit wunderschönen Stränden, tollen Unterkünften und viel Privatsphäre belohnt.

Dois Irmaos Um zum Startpunkt der rund einstün­digen Wanderung hoch zum Berggipfel zu kommen, flitzt man erst mit dem Moto-Taxi die (sichere) Favela Vidigal hoch. Erst Adrenalin, dann Traum­aussicht.

Jardim Botanico Der botanische Garten und seine Nachbarschaft entdeckt man am besten zu Fuss. Eckpunkte sind der Parque Lage oder die Absurda Confeitaria.

Oscar Niemeyer Die Vorzeigebauten des wichtigsten Architekten Brasiliens: das Niterói-Museum für zeitgenössische Kunst sowie die Casa das Canoas und das Teatro Popular.

Haight Die Stores des Bademodebrands aus Rio de Janeiro lohnen sich nicht nur für die minimalistisch-modernen Kollektionen, sondern auch für ihre skulpturale Einrichtung.

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