Pique sah unsportlich aus. Die Kniesocken falteten sich über langen Clownschuhen, und noch nicht einmal das übergrosse Tricot, das schlapp von den Schultern hing, konnte den Kugelbauch verbergen. Das Maskottchen der Fussballweltmeisterschaft 1986 in Mexiko war eine freundliche, etwas verwahrloste Chilischote mit Sombrero und hochgezwirbeltem Schnauz, kaum grösser als der Ball, auf den es sich stützte. Ich war vermutlich ebenso klein, als ich den Pique-Schlüsselanhänger erhielt. Von der WM selbst, an der Gott höchstpersönlich ein Handtor geschossen haben soll, bekam ich damals wenig mit. Die kleine Plastikfigur aber untersuchte ich im Detail, drehte sie in den Fingern und roch an ihr. Es waren meine frühsten Versuche, mit der mexikanischen Kultur Kontakt aufzunehmen. Doch welches Bild seiner Heimat wollte mir dieser Botschafter vermitteln? Ich weiss es nicht. Klischees bin ich in Mexiko jedenfalls nie begegnet. Auf meiner ersten Reise dahin – ein halbes Leben ists her – habe ich alles Erdenkliche gesehen, Sombreros aber nur auf Touristen. Die selbst gebrauten Vorstellungen von einem Land treffen die Realität kaum je. Was aber sicher stimmt: Mexiko ist betörend. Maya-Ruinen im Dschungel von Palenque, Jetset-Abgesang an den Stränden von Acapulco, Kakteenfelder im Hochland von Oaxaca und Hammerhaie entlang der Küste von Baja California mischen sich in meinem Kopf zur unwiderstehlichen Verlockung. Diesmal ist die Zeit zu knapp, um das ganze Land zu besuchen, und eigentlich bin ich ja sowieso ein Mensch der urbanen Genüsse. Nach Mexiko-Stadt also!
Etwa fünfzehn Stunden dauert die Reise ab Zürich, und dann steht die Welt kopf. Wenn der Sternenhimmel sich plötzlich unten befindet, weiss man, dass das Reiseziel erreicht ist: Im Landeanflug bei Nacht zeigt sich die Hauptstadt in ihrer überwältigenden Dimension, die Lichter der Metropolregion erstrecken sich über eine Fläche, die grösser ist als der gesamte Kanton Graubünden. Wo soll man da beginnen? Am besten auf der Plaza de la Constitución, auch Zócalo genannt, dem zentralen Platz im historischen Zentrum. Hier liegt der Ursprung des modernen mexikanischen Staates. Die spanischen Invasoren haben den Platz vor fünfhundert Jahren strategisch in unmittelbarer Nähe von Tenochtitlan gebaut, dem religiösen und politischen Zentrum des unterworfenen Aztekenreichs. Seither ist er Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. An mehreren Tagen im Jahr finden hier Feste, Konzerte, Paraden und Demonstrationen statt. In der übrigen Zeit wirkt der Platz vor dem Nationalpalast und der Kathedrale schnell leer. Dann weht die riesige Landesflagge etwas verloren über dem Federschmuck der Frauen und Männer in Aztekentracht, die vor Trauben von Touristen tanzen. Das historische Quartier um den Zócalo versammelt alteingesessene Bars, Restaurants und Läden. Die Pastelería Ideal beglückt seit 1927 immer neue Generationen mit turmhohen Torten und bunten Fruchtgelees – französischem Süssgebäck im Latina-Gewand. Im noch etwas älteren Café de Tacuba serviert das Personal noch wie früher in weissen Schürzen und Hauben eine schier endlose Auswahl traditioneller Gerichte. Während die Uhren in der Altstadt gemächlich ticken, gibt im angrenzenden Quartier das Neue den Takt an. 2018 hat der Regisseur Alfonso Cuarón die filmische Hommage an Roma, das Stadtviertel seiner Kindheit, zwar in Schwarz-Weiss gedreht, doch die Gegenwart könnte bunter nicht sein. Von Restaurant zu Bar zu Klub ziehen nachts die Kreativen, die Wilden und die Erfolgreichen. Tagsüber verlagert sich das Leben der Müssiggänger samt Hund und Yogamatte in die Cafés und Parks von Condesa, das ebenso wie Roma als «magisches Quartier» beworben wird – zu Recht, wie ich meine. Es sind Oasen der Ruhe in einer ungestümen Stadt.