An einem Flickwerk landwirtschaftlicher Parzellen vorbei, durch zerstreute Siedlungen aus kleinen, rötlich beigen Backsteinhäuschen und entlang gezähmter Wasserläufe fahren wir. In der offenen Landschaft ändert das Wetter scheinbar alle hundert Meter. Hier regnets noch, während dort hinten Licht durch dunkle Wolken schneidet. Auf unserer kurzen Tour durch Flandern zielt unser Zug nun auf Antwerpen. Da wollen wir hin, denn da wollen im Moment geschätzt alle hin. Kein Wunder. Kaum eine andere Kleinstadt ist so lebendig wie Antwerpen. Ihre Ausstrahlung zieht seit einigen Jahrzehnten Mode-, Architektur- und Kunstinteressierte an, die sich inspirieren lassen vom kreativen Kraftort in Flandern. Die Stadt scheint über ihren Grössenverhältnissen zu operieren. Wie ist es nur möglich, dass das kleine Antwerpen, eine Stadt mit einer Bevölkerung von nur etwa einer halben Million, so viele weltbekannte Designerinnen und Künstler hervorgebracht hat? Dries Van Noten, Ann Demeulemeester, Vincent Van Duysen und Luc Tuymans sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Vitalität Antwerpens ist derweil kein neues Phänomen. Den Aufstieg der Stadt erzählt ein Märchen:
An der Stelle, wo der Fluss Schelde in die Nordsee mündet, lebte einst ein Riese namens Druon Antigoon. Er herrschte über den Fluss, der die Lebensader der Provinz Gallia Belgica war. Antigoon verlangte einen exorbitanten Zoll von allen, die das Wasser überqueren wollten. Wer nicht zahlen konnte, verlor seine Hand. Dieser Ungerechtigkeit setzte erst der Soldat Silvius Brabo ein Ende. Im Kampf schnitt er dem Riesen mit seinem Schwert die Hand ab, warf sie in den Fluss und befreite so das Land von seiner Tyrannei. Der Überlieferung zufolge hat die Stadt, die später an der Flussmündung entsteht, ihren Namen von Brabos Heldentat: aus «hand werpen» (Hand werfen) wird Antwerpen.