Wannasiri Kongman und Jesse Dorsey über ihr gemeinsames Accessoire-Label Boyy

The Lucky Strike

Wannasiri Kongman und Jesse Dorsey teilen ein Leben, eine Liebe — und das Accessoire-Label Boyy. Ein Gespräch über sechzehn Jahre in Symbiose.

Charlotte Fischli
22. Aug. 2023
Charlotte Fischli

Die Geschichte der Accessoire-Marke Boyy liest sich wie ein modernes Märchen. Sie: Wannasiri Kongman, geboren und aufgewachsen in Thailand, nach einem Studium in Washington D. C. wohnhaft in New York, wo sie tagsüber in einem Restaurant arbeitet und nach Feierabend die Abendkurse einer Modeschule besucht. Er: Jesse Dorsey, gebürtiger Kanadier, der sich im Big Apple als Musiker und Produzent durchschlägt. Sie, die besessen ist von Mode und ihm jede Tasche in New Yorks Strassen benennen kann. Er, der sie dazu ermutigt, ihre eigene zu designen. Gesagt, getan. Im Jahr 2006 gründet das Paar nur kurz nach ihrer ersten Begegnung gemeinsam das Accessoire-Label Boyy, der Name ist eine Anlehnung an Wannasiris Spitznamen als Kind. Das allererste Design des Paares, die Buckle Bag mit der übergrossen Schnalle, landet direkt an den Armen von Moderedaktorinnen, Models, Bloggern – und im virtuellen Newsfeed von Fashionistas weltweit. Das Modell erlangt quasi über Nacht It-Bag-Status. Der Rest ist Geschichte.

Geschichte, das heisst konkret: Diverse Taschenkollektionen, eine Erweiterung der Produktpalette auf Schuhe und Accessoires, ein Flagship-Store in Mailand, fünf weitere Boutiquen in Bangkok. Headquarters in Europa und Asien, diverse Verkaufsstellen in den angesagtesten Concept-Stores der Welt – und einen zweiten Boy, den inzwischen siebenjährigen Sohn Jade. Das alles in sechzehn Jahren.

Im Sommer 2023 sitzen die beiden Markengründer mit uns auf der violetten Samtcouch in ihrem Mailänder Stadthaus und sagen rückblickend: «Es passierte viel, es passierte schnell, und wir hatten keine Ahnung von gar nichts.» Tiefgestapelt? Wir bekommen eine Stunde Zeit, um den Erfolg des Powerpaares zu ergründen. Dann müssen Wannasiri und Jesse weiter nach Paris – die Fashion Week wartet.

Die Geschichte von Boyy klingt fast zu gut, um wahr zu sein: Sie lernten sich in New York kennen, hatten beide keinen professionellen Hintergrund in der Mode, aber die gemeinsame Vision einer Tasche. Sie liessen sie in Bangkok produzieren und vermarkteten sie von Ihrem Wohnzimmer im Big Apple aus zur globalen It-Bag. Mal ehrlich: Was hat Ihren Erfolg ausgemacht?

Jesse Dorsey Es kam alles zusammen: originelles Design, hohe Qualität, gutes Timing – und Wannasiri, die als gebürtige Thailänderin im Ausland modische Wellen schlug. Sie war in Bangkok sehr gut vernetzt und dank ihrem Stil immer wieder in Magazinen zu sehen. Als wir Boyy starteten, war das ganze Land mächtig stolz darauf, dass eine von ihnen über die Landesgrenzen hinaus Erfolg hatte. Wannasiri galt in Thailand fast schon als Pionierin. Sie müssen verstehen: Zuvor ist es keinem Designer von dort je gelungen, sich international einen Namen zu machen.

Wannasiri Kongman In New York gibt es den Modedesigner Thakoon Panichgul, aber er ist in den USA aufgewachsen, was einen grossen Unterschied macht. Er ist Thai-Amerikaner und bezeichnet sich als «Designer aus New York». Er hat keine direkte Verbindung zu Thailand – ausser dem Blut, das durch seine Adern fliesst.

JD All diese Faktoren haben geholfen, schnell eine Art Kult um den Brand zu kreieren, eine Faszination und eine Community. Und wir sind noch immer dabei, diese zu formen.

Wannasiri, Sie reisten mit einundzwanzig Jahren zum ersten Mal nach New York. Wie war Ihr Eindruck?

WK Ich studierte zu dieser Zeit in Washington D. C. und war Teil einer grossen Gruppe von Thai-Kids, die alle zur Schule gingen, nebenbei in Restaurants arbeiteten und gemeinsam um die Häuser zogen. Mit einer Freundin machte ich dann einen Wochenendtrip nach New York. Ich entschied am allerersten Tag, dass ich irgendwann einmal hier leben würde. Ich liebte Mode, und in D. C. war diesbezüglich nicht viel los. In New York fand ich all das, was ich mir unter Amerika vorgestellt hatte. Als ich dann aber tatsächlich in den Big Apple zog, musste ich mir erst mal eine Überlebensstrategie aneignen.

Erzählen Sie!

WK Ich war einsam. In New York sind alle immer busy. Und man tendiert dazu, im Freundeskreis zu bleiben. Leute kennenzulernen, ist nicht einfach. Ich erinnere mich, wie ich nach meiner Ankunft einen Bekannten anrief, um zu fragen, ob er mit mir mittagessen möchte. Er meinte, er sei beschäftigt und könne sich erst nächste Woche mit mir treffen. Ich war verwirrt – wir wohnten doch nur vierzehn Strassen voneinander entfernt? In meiner Kultur funktionierte das komplett anders. Also begann ich, die «Page Six» zu kaufen und mir anzuschauen, wo die coolen Leute ausgehen. Diese Orte besuchte ich dann – alleine. Ich tanzte jeweils bis drei Uhr morgens und nahm dann ein Taxi nach Hause. Aus dieser Zeit habe ich meine Survival-Skills.

Jesse, Sie waren zu dieser Zeit Musiker. Wie sah Ihre Realität aus?

JD Ich habe innerhalb der Musikindustrie so ziemlich jeden Job gemacht, den es gibt – was man halt so tut, um sich in New York über Wasser zu halten. Mein Freundeskreis war ein Schmelztiegel von verschiedenen kreativen Industrien. Damals hingen alle aus der Musik, Mode, der Kunst, dem Schauspiel und so weiter zusammen ab. Es war eine andere Ära, fast schon ein Warhol-Revival. Nach dem Launch unserer ersten Boyy-Tasche kamen mir diese Kontakte klar zugute.

Ihre erste Tasche war die Buckle Bag, die innert Kürze auf jedem zweiten Street-Style-Foto zu sehen war. Wie kommt man so schnell von null auf hundert?

WK Taschen faszinierten mich schon immer. Ich designte schon vor New York meine eigenen Clutch-Bags und besuchte nach meinem Umzug am Fashion Institute of Technology (FIT) eine Abendklasse, in der ich das Handwerk lernen und mich mit der Fashion-Crowd vernetzen wollte. Leider machten wir da aber nur Kleider, und meinen Kurs besuchten fast ausschliesslich Leute, die in anderen Industrien arbei-teten und nebenbei lernen wollten, wie man näht. Es war nicht, was ich mir erhofft hatte. Als ich Jesse kennenlernte, schmiss ich den Kurs dann ganz schnell hin (lacht).

JD Eigentlich gründeten wir Boyy, ohne zu wissen, was Boyy überhaupt war. Ich machte nebenbei ja auch noch Musik. Wir starteten einfach mit einem Taschendesign und passten dieses dann laufend an.

WK Dem ging voran, dass ich 2005 von New York zurück nach Bangkok zog und da einen grossen thailändischen Designer traf, der mich bat, eine Tasche für seine Laufstegkollektion zu entwerfen. Ich hatte keine Ahnung, wie das geht, aber eine klare Vorstellung davon, wie die Tasche aussehen sollte. Also willigte ich ein und begann, zu skizzieren. Als ich dann den ersten Prototyp der Tasche sah, wusste ich: «Das ist es!» Sie war ein grosser Erfolg. Bei der Show fragten die Leute bereits backstage, wo sie sie kaufen könnten. Ich ging also zurück zu Jesse und sagte: «Ich glaube, ich habe etwas, womit wir arbeiten können.» Jesse fing dann an, die Tasche in New York herumzuzeigen, und die Dinge nahmen ihren Lauf.

JD Ich hatte eine Freundin beim Magazin «Visionaire», das damals sehr angesagt war. Sie lachte, als ich ihr sagte, dass ich anstatt Musik jetzt Handtaschen für Frauen kreiere. Aber ihr gefiel das Design, und sie machte ein paar Telefonate für mich. Kurze Zeit später riefen mich die «New York Times» und die Einkäufer von Colette und Barneys an. Wenn das deine ersten Verkaufsstellen sind, ist der Brand schnell auf dem richtigen Kurs.

Bei Ihnen klingt das so leicht. Einen Brand aufzubauen, erfordert aber schon auch Ausdauer und Durchhaltevermögen, oder? Da gab es wohl nicht immer nur magische Momente.

JD Doch, und das ist ja das Ding: Da waren immer diese magischen Momente. Sie passierten, und zwar die ganze Zeit!

WK Vor allem anfangs. Alles floss einfach, das eine führte zum anderen, und wir bekamen dadurch immer mehr Energie, um weiterzumachen. Wir dachten nicht einmal mehr nach, weil wir so beschäftigt waren mit den Bestellungen, der Produktion und dem Verkauf. Wir sind einfach immer weitergerannt, immer weiter.

JD Es ging immer schneller und schneller. Einmal rief ich meinen Vater an und sagte: «Hey, Dad, morgen treffe ich Einkäufer aus Japan, wie läuft das eigentlich so, wie mache ich einen Vertrag mit denen?»

WK Worüber wir uns immer im Klaren waren, war aber unser Anspruch an Qualität und die Läden, in denen wir präsent sein wollten. Da hatten wir genaue Vorstellungen und waren sehr strikt.

Das Wachstum Ihrer Marke ging Hand in Hand mit der rasant ansteigenden Popularität der sozialen Medien. Welche Rolle spielen diese Kanäle für Sie heute?

JD Es waren nicht nur die sozialen Medien, die uns nach oben katapultierten, sondern die Street-Style-Fotografie, die auf ihnen gezeigt wurde. Ich erinnere mich an eine Copenhagen Fashion Week, während der eine Boyy-Bag quasi Garant dafür war, fotografiert zu werden.

WK Das Bild eines Promis mit unserer Tasche zu sehen, fühlte sich früher an wie ein Lottogewinn. Heute ist leider vieles überinszeniert, artifiziell. Es gibt nur noch wenige Leute, die einen guten und vor allem eigenen Stil haben. Aber ja, damals spielte es uns sicher in die Hände. Obwohl ich betonen möchte, dass unser Antrieb immer viel grösser war, als bloss Insta-erfolgreich zu sein. Social Media war nur ein kleiner Teil vom Ganzen. Wir sind beide keine Nepo-Babys und haben hart gearbeitet, um da zu sein, wo wir heute sind.

Und doch folgt man Ihnen, Wannasiri, auf Ihrem persönlichen Instagram-Profil rund um die Welt – in die Familienferien, ins Restaurant, zum Kindergeburtstag Ihres Sohnes. Sie zeigen mehr als 70 000 Followern viel Privates.

WK Social Media ist eine Hassliebe. Ich versuche, nichts zu forcieren und eine gute Balance zu finden. Ich möchte mir mit meinem persönlichen Profil keine zusätzliche Arbeit machen, davon habe ich sonst schon genug. Und online sieht man so viel, dass ich gar nicht mehr alles absorbieren kann. Ich liebe Mode, jeden Aspekt von ihr, aber sie ist zu meinem Business geworden, das verändert die Dinge.

Sie sind in Bangkok und New York gestartet, leben heute in Mailand und haben auch da ihren ersten Flagship-Store ausserhalb von Asien eröffnet. Wo ist Boyy zu Hause?

JD Schwierig, zu sagen. Wir sehen es eher so, dass uns der Brand dahin folgt, wo unser Leben stattfindet. Boyy ist wie unser Kind, sehr persönlich. Es ist kein Produkt eines Business-Roundtable, das einfach Geld machen soll.

Dabei hatten Sie bestimmt schon Angebote von Investoren oder Luxuskonglomeraten auf dem Tisch.

WK Wir haben auch schon über solche Angebote nachgedacht. Aber besonders in letzter Zeit wurde für mich klar: «No way!» Man hört viele Geschichten. Jemanden ins Boot zu holen, kann auch heissen, eine Meinung berücksichtigen zu müssen, die nicht von Leidenschaft gesteuert ist. Und solche Entscheidungen können eine Marke zerstören.

JD Wir haben die Tür zu diesem Thema nicht zugeknallt und den Schlüssel dafür ins Meer geworfen. Aber in neunzig Prozent aller Fälle machen Investoren die Sache schlechter. Wir haben bis zum heutigen Tag keinen Rappen bekommen – und es trotzdem geschafft, einen Dollar zu zwei, zwei zu vier und vier zu acht zu machen. Aber natürlich denken wir darüber nach, die Marke zu vergrössern. Und wenn das in einem Land beispielsweise einen lokalen Partner erfordert, dann sind wir offen, das zu besprechen. Auf eigene Faust etwa einen Laden in China zu eröffnen, ist schlicht unmöglich.

Apropos Läden: Sie haben kürzlich Ihren Flagship-Store in Mailand eröffnet. Wie wichtig sind solche eigenen Verkaufsflächen für Ihren Brand?

WK Sehr wichtig. Wir legen viel Wert darauf, unsere Marke und Geschichte in einer eigenen Umgebung zu präsentieren. Unsere Kundschaft versteht den Brand so viel besser.

JD Das liegt auch an unserer Preisklasse. Wir sind weder ein Luxusbrand wie Hermès noch ein sogenannter Contemporary Brand, bei dem die Dinge hochwertig aussehen, aber nicht viel kosten. Somit macht es einen riesigen Unterschied, in welchem Kontext unsere Marke präsentiert wird. Platziert man uns neben Luxusbrands, sind wir danach ausverkauft, weil wir mit der Qualität mithalten können, aber die Hälfte kosten. Neben einem Contemporary Brand aber erscheinen wir teuer und damit unattraktiv.

Nehmen Sie eigentlich Unterschiede wahr zwischen dem asiatischen und dem westlichen Markt respektive dem Kaufverhalten der Kundinnen und Kunden?

JD Beim Design gibt es klare Präferenzen. Asiatinnen lieben Mini-Bags, in Europa zieht man die grösseren Modelle vor. Einen beträchtlichen Unterschied gibt es auch in der Wahrnehmung der Marke: In Europa sind wir noch immer ein neuer Brand. Wir haben zwar von Anfang an hier verkauft, aber als wir genauer hinschauten, mussten wir realisieren: Alle unsere Kundinnen hier in Europa sind Touristinnen, die meisten aus Asien und dem Mittleren Osten. Nach Europa zu kommen, bedeutete für uns, nochmals bei null anzufangen. 98 Prozent der Bevölkerung hier kennen unsere Marke nicht.

Ist die Kreation einer It-Bag eigentlich Fluch oder Segen? Auf der einen Seite bringt sie Erfolg und Geld, aber auch die ewige Assoziation mit ihr – was es für ein neues Produkt nicht ganz einfach macht, oder?

WK Ich weiss nicht, ob unsere Kundinnen auf etwas Neues, Besseres warten. Aber der anhaltende Erfolg unserer Buckle Bag gibt mir primär den Raum und die Zeit, etwas anderes auszuprobieren. Es ist eine Herausforderung der guten Art.

JD In einer perfekten Welt hätte diese Tasche natürlich irgendwann den Status einer Birkin Bag von Hermès. Realistisch gesehen, hat sich ihre Laufbahn aber bereits verändert, die Nachfrage sich etwas beruhigt. Aber ich wünsche mir natürlich, dass man sich immer an diese Tasche erinnern wird! Deshalb werden wir sie auch weiterhin anbieten – zukünftig halt vielleicht in kleinerer Auflage.

Sie scheinen Ihr ganz eigenes Ding zu machen und widersetzen sich bewusst dem klassischen Turnus in der Modeindustrie. Sie lancieren Ihre Kollektionen in unregelmässigen und längeren Zeitabständen als andere – immer dann, wann Sie möchten. Wurde das auch schon zum Problem?

JD Unsere Marke ist in einem New Yorker Showroom gross geworden, in dem halbjährliche Kollektionen die Norm waren. Irgendwann realisierten wir, dass wir niemanden zufriedenstellen müssen ausser uns selbst. Ab 2010 präsentierten wir nur noch privat. Um etwas Gutes zu kreieren, braucht man Zeit. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Nein, das war nie wirklich ein Problem. Solange sich unsere Taschen gut verkaufen, sind alle happy.

Viel Zeit brauchte auch die Zusammenarbeit mit dem dänischen Künstler Fos, mit dem Sie zuletzt Ihren neuen Mailänder Flagship-Store designten. Jesse, Sie erzählten beim Launch Ihres ersten gemeinsamen Projekts, dass er nur sehr schwer dafür zu gewinnen war.

JD Ich musste viel Überzeugungsarbeit leisten, ja. Da er recht zurückgezogen arbeitet, war es nur schon kompliziert, überhaupt an ihn ranzukommen. Fos ist fast wie ein Mythos. Als wir ihn 2018 kontaktierten, kam er gerade aus der Zusammenarbeit mit Phoebe Philo für das Label Céline, für deren Stores er Kunstobjekte entworfen hatte. Er war wenig interessiert an einem weiteren Fashion-Projekt, willigte aber ein, mich in Kopenhagen zu treffen. Ich war so nervös! Und wusste, dass ich nur diese eine Chance hatte, um bei ihm zu landen. Ich flog also nach Dänemark und pitchte ihm unseren Brand. Wir sprachen lange und fanden viele gemeinsame Nenner – unser Alter, unsere Vorfahren, unseren Musikgeschmack. Ich war erleichtert – und zuversichtlich! Und am Ende des Gesprächs sagte er: «Also gut, vielleicht mache ich euch für den Laden eine Lampe.» (Lacht.)

WK Wir dachten: «Nein, wir wollen keine Lampe, die haben wir doch schon!» (Lacht.)

JD Heute lachen wir darüber, weil er inzwischen ja unglaublich involviert ist. Man könnte fast sagen, wir haben gemeinsam mit Fos die Basis unserer Marke nochmals neu definiert.

Das Resultat der Zusammenarbeit – der Laden an der Via Bagutta in Mailand – könnte auch eine Galerie sein oder eine Kunstinstallation.

JD Das war genau die Idee dahinter: den Laden als Konzept neu zu denken und auch unsere persönlichen Grenzen zu überschreiten. Nachdem wir während acht Jahren Läden am Laufmeter eröffnet haben und alles immer selbst designten, hatte ich das Gefühl, unser Peak sei erreicht. Ich wollte weiter. Aber nicht dadurch, einfach jemanden einzustellen, der mir einen schönen Raum designt. So landeten wir bei Fos.

Was reizt Sie an der Zusammenarbeit mit einem anderen Kreativen?

JD (Überlegt.) Fos ist für mich fast wie ein Lehrer. Er hat sich vollumfänglich dem Künstlerleben verschrieben. Ich weiss, dass ich diese Art, zu denken, auch in mir trage, aber bei mir ist da noch der kommerzielle Teil, der verkaufen möchte. Fos hingegen lebt nur in dieser einen Welt. Für mich war die Zusammenarbeit mit ihm eine persönliche Lernerfahrung. Und genau das, was ich mir von diesem Projekt erhofft hatte.

Sie haben Boyy kurz nach Ihrem Kennenlernen gegründet. Was uns alle interessiert: Was ist das Geheimnis einer erfolgreichen Beziehung am Arbeitsplatz?

JD Wenn es eines gibt, dann lassen Sie es uns bitte wissen. Nein, wirklich: Wir haben keine Ahnung.

WK Als wir den Brand gegründet haben, waren wir ganz frisch zusammen, sind uns als Menschen ganz neu begegnet. Eigentlich hat Jesse mich gleich mit unserem Brand geschwängert! (Lacht.) Boyy ist tatsächlich wie unser Baby. Wir leben und atmen mit ihm. Und vielleicht hat er uns manchmal auch zusammengehalten. Irgendwie ist Boyy zu unserer Welt geworden. Unsere Zeit als Paar verbringen wir entsprechend damit, unsere To-do-Listen abzuarbeiten.

Klingt romantisch …

WK Ich verspüre eine gewisse Magie und Verbindung, wenn wir gemeinsam mit der Marke etwas erreichen – eben, weil sie wie unser Kind ist. In diesen Momenten fühle ich eine tiefe Zufriedenheit. Aber ja, Romantik involviert in unserem Fall fast immer die Arbeit. Es sei denn, ich bekomme ein besonderes Geschenk von ihm … (Lacht verschmitzt.)

JD Wir leben ein Leben, in dem wir immer zusammen sind – rund – um – die – Uhr! Wir reisen zusammen, essen zusammen, machen alles gemeinsam – wer hat das schon? Ich bin dankbar dafür, auch wenn es für eine Beziehung eine gewisse Komplexität mit sich bringt. Es ist schwierig, die Grenze zu ziehen, was Arbeit ist und was nicht.

Wer von Ihnen beiden geht mehr Kompromisse ein?

JD (Hebt wortlos die Hand.)

WK Keiner. Keiner von uns geht Kompromisse ein.

JD Ich. Früher habe ich noch gekämpft, und zwar bis zum bitteren Ende. Inzwischen habe ich das Verlangen danach verloren.

WK Ich überlasse ihm die Dinge, für die er mehr Leidenschaft hat – die Läden zum Beispiel – und die Zusammenarbeit mit Fos. Ich sagte zu Jesse: «Schau, ihr könnt da rumspielen wie zwei Jungs auf dem Spielplatz. Meine einzige Bedingung ist ein Lagerraum. Es ist schliesslich immer noch eine Verkaufsstelle.» Ansonsten genossen die beiden volle Freiheit.

WK Sehen Sie – was für eine nette Chefin!

Welche innere Kraft treibt Sie nach all den Jahren an, was entfacht das Feuer in Ihnen?

JD Ich liebe es, zu kreieren, das war schon immer so. Als ich Musik machte, war es die Produktion, die mich begeisterte – ich wusste ganz genau, wie ich eine Band, die ich sah und hörte, zu einem Paket formen muss. Wenn mich jemand heute fragt, wie ich von der Musik in die Mode wechseln konnte, sage ich immer: Es ist für mich fast das Gleiche. Der Unterschied ist das Resultat, das in der Musik akustisch ist und in der Mode visuell, haptisch. Die Prozesse hingegen sind für mich identisch. Anstatt herauszufinden, wie ich einem Schlagzeug einen bestimmten Klang verleihe, findeich heute den richtigen Lederproduzenten in Italien. Ich sehe etwas im ganzen Umfang, 360 Grad, und kann es zum Leben erwecken.

WK Ich brenne für die Vision und erkenne das Potenzial eines Produktes sofort. Ich weiss genau, wie eine Tasche an einer Person aussehen kann. Ich bin nicht gut im Zeichnen oder Konstruieren, aber ich habe ein sehr präzises Gespür dafür, wie etwas aussehen muss. Mein Gefühl hat mich bis jetzt nie getäuscht. Das heisst natürlich nicht, dass ich ständig It-Bags designen kann. Aber wenn mir die richtige Idee kommt, dann weiss ich es.