Kym Ellery

Der Lauf der Dinge

Kym Ellery zählte zu den erfolgreichen Modeschöpferinnen Australiens. Dann zog sie nach Paris, kehrte der Industrie den Rücken und erfand sich im Design neu.

Spektakulär

Wer das Geschehen in der Modeindustrie in den letzten zwei Dekaden verfolgt hat, der ist am Markennamen Ellery nicht vorbeigekommen. Ellery, das waren Blazer mit überlangen Rüschenärmeln und Hosen mit Schlag. Voluminöse Silhouetten, raffiniert kombiniert. Messerscharfe Avantgarde – und heiss begehrter Zeitgeist. Ihre Statement-Pieces zogen die Modeindustrie mehr als eine Dekade lang in ihren Bann. Bis sich die Gründerin dazu entschied, kreativ neue Pfade zu beschreiten.

Wir treffen Kym Ellery, die heute mit ihrem Partner und zwei Kindern in Paris wohnt, in einem von mehreren Wohnsitzen. Die Maison Rocher, ein lichtdurchflutetes, grosszügiges Appartement unweit der Place de la République, ist nicht nur ihr Zuhause, sondern auch Kunstgalerie und Event-Location. Was zur Folge hat, dass die Eigentümerfamilie regelmässig auf andere Bleiben ausweichen muss.

Am Februarmorgen, an dem uns Kym Ellery in der Maison Rocher empfängt, ist der Wohnbereich des Appartements nur minimal eingerichtet – soeben fotografierte hier ein Luxushaus seine neuen Designkreationen. Ständige Bewohner gibt es nur wenige. Diese sind aber umso hochkarätiger: eine bunt strahlende Ellipse von James Turrell an der Wand und ein Werk der Künstlerin Juliette Minchin an der Decke. «Die Bahnen aus Wachs hat Juliette während dreier Tage direkt hier angefertigt. Es war spektakulär», so Ellery.

Während sie sich als First Lady des Projekts erklärt, das von ihrem Partner Jérémy Rocher initiiert wurde, ist die Welt von Kunst und Design zunehmend auch ihre geworden: Seit dem Ende ihres Labels – sie produziert nur noch eine Reihe an Bestsellern – fertigt Ellery heute Möbel und Objekte anstatt Mode. «Design fühlt sich in der jetzigen Phase meines Lebens bedeutungsvoller an», so die Vierzigjährige, die mit der Schnelllebigkeit der Modeindustrie nicht mehr mithalten kann – und will. Der Look ihrer neuen Lampen, Sessel, Hocker und Kerzenhalter? Skulptural, voluminös, futuristisch. Ellery eben.

BOLERO Welche Rolle spielten kreative Disziplinen in Ihrer Erziehung?

KYM ELLERY Meine Mutter ist Künstlerin und hat mich und meine Geschwister schon früh dazu ermutigt, uns kreativ auszuleben. Sie praktizierte so ziemlich jede Art von Handarbeit, beherrschte Drucktechniken, machte Keramik und Textilien, sie nähte, strickte, häkelte. Dadurch, dass sie auch als Lehrerin tätig war, bin ich in gewisser Weise schon mein ganzes Leben lang ihre Schülerin. Durch ihre Interessen und ihr künstlerisches Umfeld drehten sich auch entsprechend viele unserer sozialen Aktivitäten darum, Kunstgalerien und Museen zu besuchen. Mein Vater, ein Maori aus Neuseeland, ist wiederum sehr praktisch veranlagt. Von ihm lernte ich unter anderem die Mathematik, die es für die Kreation eines Objekts braucht – ob aus Papier, Karton oder Holz.

Ihre erste Liebe galt aber der Mode.

Ich liebte Kleider, so wie wahrscheinlich viele kleine Mädchen, und zeichnete als Kind ununterbrochen Kleidungsstücke. Mit ungefähr sieben Jahren brachte mir meine Mutter dann endlich das Nähen bei. Auf meinen Skizzen waren schon damals Frauen zu sehen, die riesige, hohe Hüte trugen und mit grossen Maschen verzierte Schuhe.

Ihr Modelabel Ellery, das Sie 2007 gegründet haben, war bekannt für solch voluminöse und architektonische Silhouetten. Eine ähnliche Designsprache ist auch heute in Ihren Möbeln und Objekten erkennbar. Woher kommt Ihre Affinität zum Skulpturalen?

Ich glaube, ich fühle mich vom Figurativen und Brutalistischen so angezogen, weil ich einen Grossteil meiner Kindheit in solchen Räumen – Galerien und Museen – verbracht habe. Diese Architektur fühlt sich für mich einfach vertraut und familiär an. Selbst die australische Botschaft in Paris entspricht diesem Stil.

Ihre Marke hat schnell grosse Erfolge gefeiert: Sie zeigten innerhalb weniger Jahre Ready-to-wear-, Pre-Fall-, Resort- und Couture-Kollektionen, grosse Magazine und Celebrities haben Sie portiert. Hinzu kam, dass Sie erst die dritte Designerin aus Australien waren, die an der Paris Fashion Week präsentieren durfte. Wie schauen Sie heute auf diese Zeit zurück?

Ich bin stolz darauf, mein Ziel, irgendwann in Paris leben und arbeiten zu können, erreicht zu haben. Und das als unabhängiges Unternehmen ganz ohne Investoren. Als ich startete, schmiss ich die ganze Produktion allein, machte jede Stickerei selbst von Hand. Ich hatte bloss eine Praktikantin, die ich vor und nach meinem Vollzeitjob als Redaktorin bei einem Modemagazin traf. Nichtsdestotrotz: Als kleines, unabhängiges Label hat man es in den Abläufen der Modeindustrie, die auf grosse, vertikal strukturierte Unternehmen ausgelegt ist, sehr schwer.

Inwiefern?

Man darf nicht vergessen: Zum Zeitpunkt, zu dem die grossen Häuser ihre Kollektionen an der Fashion Week präsentieren, ist der Einkauf der Warenhäuser schon erfolgt, die Kleider und Stoffe schon in Produktion. Für kleine Labels aber geht es nach den Schauen erst los. Hängen ihre Stücke erst einmal im Laden, bleiben nur noch wenige Wochen, bis sie im Ausverkauf verscherbelt werden. Das ist verrückt. Man operiert als kleiner Brand ständig aus einem Defizit heraus. Unsere Entscheidung, während der Haute-Couture-Modewoche zu zeigen, die zwei Monate vor der regulären Fashion Week stattfindet, war eher ein Versuch, diesem schnellen Rhythmus entgegenzuwirken.

Designer sind in erster Linie Kreative, deren Talent in ihrer künstlerischen Vision liegt. Wollen sie ihren Brand nachhaltig skalieren, erfordert das fundiertes Businesswissen.

Genau. Ich wurde diesbezüglich gerade kürzlich von einer jungen Designerin um Rat gefragt. Ich sagte: Absolviere erst ein Wirtschaftsdiplom. Die Realität ist, dass man sich in diesem Job zu achtzig Prozent dem Business und nur zu zwanzig Prozent seiner kreativen Vision widmen kann – es sei denn, man ist Teil eines grossen Hauses und darf sich auf einen Tätigkeitsbereich fokussieren. Es ist notwendig, eine Idee davon zu haben, was unternehmerisch wichtig ist. Ansonsten ist man den Entscheidungen anderer ausgeliefert, ohne zu wissen, ob sie überhaupt richtig gut sind in dem, was sie machen.

BOLERO Würden Sie mit dem Wissen, das Sie heute haben, nochmals einen Modebrand starten?

KYM ELLERY Ich liebe es, Kollektionen zu kreieren, darum würde ich es wieder tun – aber anders. Tatsächlich finde ich, dass meine Arbeit damals nicht meine bestmögliche war, weil ich so viel meiner Kapazität anderem widmen musste als meiner Kreativität. Ich hätte einiges optimieren, meine Mode mehr von aussen betrachten können. Zu wissen, was sich verkauft und was nicht, beeinflusst das Schaffen ungemein, und irgendwann hat man eine Kollektion vorliegen, die etwas aussagt, was man gar nicht wollte. Es wäre schön gewesen, zu sehen, in welche Richtung sich die Marke entwickelt hätte, wenn ich weniger auf andere gehört hätte.

Die Bedeutung von Luxusgütern und Exklusivität hat sich in der letzten Dekade grundlegend verändert. Heute ist fast alles für jeden verfügbar, rund um die Uhr. Wie blicken Sie auf die Luxusindustrie?

Die Mode ist zum Mainstream geworden, der Aspekt von Exklusivität und Qualität fehlt leider immer öfter – man findet ihn nur noch an ganz wenigen Orten und wenn man sehr aufmerksam sucht. Ich bedaure sehr, dass es seit dem Aufschwung von Plattformen wie «The Business of Fashion» vermehrt um die Zahlen und das Innenleben von Unternehmen geht. Das Schöne und Geheimnisvolle, das Design und Kreation für mich ausmachten, ist verloren gegangen. Alles wird heute begleitet von einer Diskussion über den Aktienpreis oder die Businessstrategie.

Auf der anderen Seite sorgen solche Quellen für mehr Transparenz und Verständnis.

Ja, aber als Konsument will ich mich in eine Kollektion und in eine Emotion verlieben und mir nicht überlegen, ob eine Marke profitabel ist oder nicht. Vivienne Westwood hatte etliche Umstrukturierungen und Investorenwechsel, aber was die Welt von aussen zu sehen bekam, waren vor allem epische Laufstegschauen. Wir sprachen über nichts anderes als diese unglaublichen Inszenierungen! Ich verstehe, dass die grossen Firmen heute die Massen erreichen und Modeschauen in ein Konzert verwandeln wollen, um am Ende profitabel zu sein. Das ist die Welt, in der wir heute leben. Persönlich bin ich an solchen Geschichten aber immer weniger interessiert. Sie entsprechen mir nicht mehr, und die Kleider, die daraus entstehen, will ich nicht mehr tragen.

Gibt es dennoch Designer, die Sie schätzen?

Von den grossen Häusern mag ich die Männermode von Jonathan Anderson. Sie ist wunderschön und ist das, was ich selbst gern tragen würde. Wardrobe NYC, das Label meiner australischen Freunde Christine Centenera und Josh Goot, ist smart und tragbar. Hodakova sowie Duran Lantink, die beide mit Upcycling arbeiten, sind in meinen Augen zwei der talentiertesten Designer, die es zurzeit gibt. Mit Duran habe ich während Covid zusammengearbeitet. Seine Entwicklung und die Evolution seiner Designsprache zu beobachten, ist toll.

Seit 2023 widmen Sie sich der Kreation von Collectible Design; Möbel, Lampen, Objekte. Neuausrichtung oder Erweiterung Ihrer bisherigen Marke?

Beides. Ich wollte schon immer nicht tragbare Objekte schaffen. Der finale Input kam dann aber durch Michaël Hadida, den Gründer der Designmesse Thema und Sohn der L’Éclaireur-Gründerfamilie. Er ermutigte mich dazu, meine Vision weiterzuentwickeln. Meine Freundin, die Architektin Sophie Dries, half mir wiederum bei der Produktion meiner ersten Stücke, indem sie mich mit lokalen Handwerkern bekannt machte.

Wie unterscheidet sich der Schaffensprozess für ein Möbelstück von demjenigen für ein Kleidungsstück?

Interessanterweise fühlt er sich sehr ähnlich an, bloss viel weniger psychisch belastend. Er ist ehrlicher, unkomplizierter. Und langsamer – ich produziere ein Stück, nicht zweihundert.

Finden Sie an denselben Orten Inspiration, wie wenn Sie Mode kreieren?

Ich hatte zunächst keine Ahnung, wo ich überhaupt anfangen sollte – es gab so viele Orte dafür. Schliesslich war es ein Schmuckstück aus meinem Modearchiv, das ich neu interpretieren wollte. Das Resultat war meine erste Lampe namens The Moulin.

Welcher Teil des Entstehungsprozesses begeistert Sie am meisten?

Das fertige Stück erstmals in der Werk- statt zu sehen, ist cool, weil es eine ganz neue Erfahrung für mich ist. Ich arbeite ja mit ganz neuen Medien und Materialien. Allein schon das halb fertige Objekt zu sehen, ist aufregend.

Wie stehen Sie zum bekannten Designleitsatz «Form follows function»?

Ein Objekt wie der Loveseat Toi et moi, den ich für die letztjährige Art Paris kreiert habe, ist für mich in erster Linie skulptural. Bei anderen Objekten, wie zum Beispiel einer Lampe, ist die Funktionalität wiederum unumgänglich. Ich finde es spannend, mich zunehmend mit dieser Frage auseinanderzusetzen, zumal ich sie in meinen allerersten Kreationen teilweise zu wenig miteinbezogen habe. Grundsätzlich höre ich oft, dass meine Visionen unmöglich umzusetzen seien ... was in Frankreich aber keine Seltenheit ist (lacht).

Woran arbeiten Sie aktuell?

Es gibt einige Galerien und Designmessen, die mich für Ausstellungsstücke anfragen, was mich sehr freut. Letztes Jahr lancierte ich wie gesagt den Loveseat Toi et moi an der Art Paris; für die diesjährige Messe werde ich wieder einige Stücke designen. Mit einer weiteren Galerie in Paris plane ich eine Schau im Juni. Ausserdem bin ich im Austausch mit Ashlee Harrison, die lange die Carpenters Workshop Gallery kuratierte und in einem New Yorker Townhouse nun Künstler und Designer repräsentieren möchte. Und wenn alles wie geplant läuft, habe ich dieses Jahr sogar meine erste Einzelausstellung.

Im November 2024 eröffneten Sie und Ihr Partner Jérémy Rocher die Maison Rocher, die als Kunstgalerie, Event-Location, aber auch als Ihr Zuhause fungiert. Wie kam es dazu?

Das Projekt war die Idee von Jérémy – ich bin da eher die First Lady. Er hatte den Space schon gekauft, als wir uns kennenlernten. Ich helfe ihm nun bei der Aktivierung und dem Aufbau einer kreativen Community. Um Letztere geht es im Kern: Jérémys Vision war, eine Galerie zu schaffen, bloss ohne die üblichen vier weissen Wände. Er wollte einen Ort, der es einer kreativen Gemeinschaft erlaubt, Kunst und Design in einem heimischen Rahmen zu betrachten. Wer hier reinkommt, soll sich zu Hause fühlen.

Mode und Design werden immer verwobener – an der Mailänder Möbelmesse sind immer mehr Modehäuser präsent; im März wiederum findet während der Paris Fashion Week auch die zweite Ausgabe der aufstrebenden Designmesse Matter and Shape statt. Wie schätzen Sie diese Ent-icklung ein?

Ich kann nur für mich sprechen, aber als kreativ arbeitende Person bin ich an allerlei Methoden und Möglichkeiten interessiert, mit denen ich meine künstlerische Vision umsetzen kann. Rick Owens war für mich in dieser Hinsicht immer eine grosse Inspiration. Ich beobachte bei vielen, dass sie ihren Fokus weg von der Mode und hin zu Räumen und Objekten verschieben. Als Designerin fühlen sich diese Disziplinen gerade sinnvoller und weniger ersetzbar an.

Sie sagten einst, dass Sie für Ihre Modemarke Ihr Privatleben opferten. Wo ziehen Sie heute Ihre Grenzen?

Vor der Pandemie hatte ich mich selbst wie auch meine Beziehungen vernachlässigt. Ich war konstant unterwegs und verbrachte dadurch auch meine Freizeit mit meinen Arbeitskollegen, was auf Dauer erschöpfend war. Seit Covid baue ich Zwischenmenschliches wieder auf und achte beispielsweise darauf, abends nicht länger als bis 18 Uhr zu arbeiten. Die Dinge ändern sich, wenn man eine Familie hat. Ich denke oft an Frauen wie Chemena Kamali, die zwei Kinder hat und gleichzeitig Kreativdirektorin bei Chloé ist. Ich würde sie gern fragen, wie sie Job und Familie balanciert. Ich werde Mode und Kleider immer lieben, aber zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben möchte ich mich anderen Dingen widmen. Wir werden sehen, ob das eines Tages zu einem Überschuss an Energie führt (lacht).

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