Dass das gemeinsame Erleben von Stille eine tiefe Verbindung zwischen Menschen herstellt, liess sich eindrücklich bei Marina Abramovic's «The Artist Is Present» (2010) erleben. Über 700 Stunden sass die Künstlerin im New Yorker Museum of Modern Art stumm ihren zahlreichen Besuchenden gegenüber. Diese stillen Momente waren intim und bewegend, selbst für die, die dabei nur zuschauten. Auch beim Silent Dating begegnen sich Menschen zunächst nonverbal. In Ruhe zusammen kommt man ebenfalls beim Silent Reading Rave. Der Non-Profit-Verein aus Zürich zelebriert schweizweit die Freude am Lesen. Für etwa zwei Stunden liest dabei jede und jeder im eigenen Buch. Danach löst sich die Gruppe wieder auf, die gemeinsame Leidenschaft wird genossen, ohne danach durchdeklinieren zu müssen, was gefallen hat und was nicht.
Es gibt eine Szene im Film «Pulp Fiction», da sagt Uma Thurman mit Cocktailkirsche zwischen den Fingern zu John Travolta: «That’s when you know you’ve found somebody really special; When you can just shut the f*** up for a minute and comfortably share silence.» Tatsächlich gibt es kulturelle Unterschiede, wie diese komfortable Stille im Gespräch wahrgenommen wird. Menschen haben ein evolutionär bedingtes Verlangen nach Verbundenheit und Akzeptanz; wir sind soziale Wesen durch und durch. Wenn jemand nicht so schnell auf uns reagiert, wie wir es gern hätten, kann die Stille als Ablehnung interpretiert werden. Eine niederländische Studie ergab, dass es nur vier Sekunden Stille in einem Gespräch braucht, damit sich Amerikaner verunsichert oder abgelehnt fühlen. Japaner hingegen finden selbst eine Pause von bis zu 8,2 Sekunden völlig in Ordnung. Dazu passt das japanische Konzept Haragei. Haragei bedeutet wörtlich «Kunst des Bauchs». Es geht darum, das Gegenüber intuitiv zu verstehen, Botschaften und Mitteilungen mehr nonverbal zu senden und zu erspüren, als explizit verbal auszudrücken oder zu verstehen. Bei dieser subtilen Art der Kommunikation wird auf Mimik und Körpersprache geachtet, aber auch auf den gezielten Einsatz von Stille.
DIE GROSSE STILLE ALS GESELLSCHAFTLICHER TREND
Die Lust an der Stille ist keine neue Erscheinung, sie spielt in vielen traditionellen und spirituellen Riten eine zentrale Rolle. Als Schlüsselelement, um die Welt jenseits des Lärms und der Ablenkungen zu erfahren und das wahre Wesen der Realität zu erkennen. In unserer Gesellschaft nimmt die Suche nach Stille dabei nicht nur individuellen Charakter, sondern zunehmend gesellschaftliche Dimensionen an. Im Zuge einer grösseren Sensibilität gegenüber neurodiversen Menschen etwa, aber auch als allgemeines Bedürfnis. Ein Bedürfnis, dessen Institutionalisierung und Integration in öffentlichen und privaten Räumen stattfinden sollte. Stille könnte gezielt gefördert werden, um den Menschen eine Auszeit vom konstanten Lärm und Stress zu ermöglichen. In Städten wie New York werden bereits Lärmkameras eingesetzt, in der Stadtplanung kommen lärmmindernder Asphalt und grüne, schallschluckende Fassaden zum Einsatz. Lärm als Synonym für Produktivität und Fortschritt hat so sehr ausgedient, wie Stille rar geworden ist. Wer wirkliche Stille erleben will, muss oft weite Wege gehen oder in Orte investieren, die diesen Rückzugsraum bieten. Vielleicht sollten wir sie darum als Grundbedürfnis begreifen, als schützens- und erhaltenswert. Und den Zugang zu ruhigen, nicht ablenkenden Räumen einfordern.
In der Ausstellung «Silence» in der Pariser Cité des sciences et de l’industrie kann man ihr bis Ende August auf die Schliche kommen. Der akustische Rundgang endet mit John Cages legendärem Werk «4′33′′». Eine Arbeit, die mit der vermeintlichen Stille spielt. Denn der Inhalt von «4′33′′» definiert sich nicht durch totale Lautlosigkeit, sondern ist geprägt durch die Umgebungsgeräusche, die das Ohr des Zuhörers während der Performance erreichen. Hüsteln, Stühlerücken, das Rascheln von Stoff. Eine Anregung zum Nachdenken über Stille und Musik und dazu, die Welt als eine Art Klanglandschaft zu erleben. Denn Stille ist kein leeres Nichts. Sie ist Raum für Ideen, für Kreativität, für Klarheit. Vielleicht ist es an der Zeit, sich davon inspirieren zu lassen und die Stille wieder als das zu entdecken, was sie ist – ein seltenes Gut. In einer Welt, in der Lautstärke die Norm ist, wird Ruhe so zum bewussten Gegenentwurf. Pssssst.