Ein Plädoyer für die Stille

Ruhe jetzt

Stille wird immer mehr zum Luxusgut in einer Welt, die niemals leise ist. Ein (geflüstertes) Plädoyer für die Notwendigkeit ruhiger Momente in einer überreizten Gesellschaft.

Luxusgut Stille

Am leisesten Ort der Welt hört man nichts, ausser das eigene Blut in den Ohren rauschen. Manche Menschen bekommen hier nach wenigen Minuten Tinnitus oder Halluzinationen. Der stillste Platz auf Erden liegt im amerikanischen Minneapolis und ist eine sogenannte anechoische Kammer, ein schalltoter Raum, der primär der Forschung dient. Maximal 45 Minuten hat es hier ein Mensch ausgehalten. So unangenehm, sogar beängstigend absolute Stille empfunden werden mag, so sehr sehnen wir uns nach Momenten der Ruhe gerade in einer Welt, die immer lauter wird, sei es durch ständigen Verkehrslärm, die unaufhörliche digitale Benachrichtigungsflut oder das aktuell so schrille politische Geschehen. Die Weltgesundheitsorganisation bezeichnete Lärm bereits 2001 als «moderne Plage», ruhiger ist es um uns herum seitdem jedoch nicht geworden – auch wenn die Verkaufszahlen von Noise-Cancelling-Kopfhörern in den vergangenen Jahren einen kontinuierlichen Anstieg verzeichnen.

WIR BRAUCHEN UND WIR FÜRCHTEN SIE

Dabei ist unser Verhältnis zur Stille ambivalent. Dass wir sie brauchen, steht ausser Frage. Tatsächlich überfordert der ständige Geräuschpegel durch Verkehr, Smartphones und Maschinen viele Menschen. Studien belegen, dass bereits ständiger Lärm über 65 Dezibel – was dem Geräusch eines Staubsaugers oder einer lauten Unterhaltung entspricht – Stress, Bluthochdruck, Schlafprobleme und Hörverlust verursachen kann. Die Sehnsucht nach Stille entspringt also einem existenziellen Bedürfnis. Wird es still um uns, senken sich Herzfrequenz und Blutdruck. Es wurde nachgewiesen, dass Stille bei Mäusen zur Bildung neuer Neuronen führt. Stille ist mehr als nur Lärmentlastung, sie wirkt regenerierend auf Körper und Geist.

So sehr wir uns heute nach Ruhe sehnen – im digitalen Zeitalter verlernen wir zunehmend die Fähigkeit, sie tatsächlich zu geniessen oder auch nur auszuhalten. Für die Angst vor der Stille gibt es sogar ein Wort: Sedatephobie. Studien belegen, dass digitale Technologien die Angst der Menschen vor Stille verstärken. Keine Tramfahrt ohne Podcast im Ohr, in Restaurants, beim Einkaufen, in der Hotellobby – überall werden wir von Hintergrundmusik berieselt und von den auf unserem Handy aufpoppenden Nachrichten immer wieder in wortwörtliche Unruhe versetzt. Fällt diese ständige Ablenkung plötzlich weg, bereitet uns das zunächst einmal Unbehagen. Der schnelle Griff zum Natel, der ständige Blick ins virtuelle Postfach sind Übersprungshandlungen, die diese Angst vor dem nicht ausgefüllten Raum in Schach halten sollen: Wir könnten plötzlich unseren Gedanken zuhören, Raum für echte Reflexion haben. Unsere Gegenwart ist so von einem Spannungsverhältnis aus der Sehnsucht nach und der Furcht vor der Stille gekennzeichnet.

GEMEINSAM SCHWEIGSAM

Wenn nun die Generation Z die Stille neu entdeckt – auf Social Media trenden gerade sogenannte Silent Walks –, mag das für all jene, die als Kinder zum sonntäglichen Spaziergang genötigt wurden, albern erscheinen. Hineingeboren in eine Welt voller Push-Nachrichten, zackig geschnittener Tik-Tok-Videos und einer schier unerschöpflichen Masse an Musiktiteln, Serien und News, ist die Relevanz solcher Auszeiten für die Sinne tatsächlich etwas Neues. Bei den Spaziergängen ohne Ear-Pods im Ohr konzentriert man sich bewusst auf den gegenwärtigen Moment, die Atmung, auf Naturgeräusche, das Licht, auf Gerüche und die Beschaffenheit des Bodens. Die Stille soll hier auch die Verbindung zum eigenen Körper und zur Umwelt stärken.

Dabei ist diese Form des Rückzugs nicht gleichbedeutend mit Isolation – die Stille wird nun auch in Gemeinschaft gesucht. Zwischen Zoom-Vorlesungen, Netflix-Marathons und Gaming-Sessions trifft man sich in Silent Cafés mit gedämpftem Licht und leisen Umgebungsgeräuschen oder zum Dinner ohne Konversation. Das New Yorker Restaurant «Eat» war hier Vorreiter. Dessen Macher inspirierte ein Aufenthalt in einem buddhistischen Kloster zu diesem Konzept, das mittlerweile Ableger rund um den Globus hat. Ein Gegentrend zu Restaurants mit lauter Musik und fliessendem Übergang zum Klubbetrieb. Der Fokus liegt auf den Aromen, dem Zusammenspiel der Zutaten, dem sinnlichen Erleben. Und tatsächlich belegt eine Studie der Universität Manchester, dass Salziges und Süsses in einem lauten Umfeld schlechter erkannt werden. Je mehr Krach herrscht, desto fader schmeckt das Essen.

VERBUNDEN OHNE WORTE

Dass das gemeinsame Erleben von Stille eine tiefe Verbindung zwischen Menschen herstellt, liess sich eindrücklich bei Marina Abramovic's «The Artist Is Present» (2010) erleben. Über 700 Stunden sass die Künstlerin im New Yorker Museum of Modern Art stumm ihren zahlreichen Besuchenden gegenüber. Diese stillen Momente waren intim und bewegend, selbst für die, die dabei nur zuschauten. Auch beim Silent Dating begegnen sich Menschen zunächst nonverbal. In Ruhe zusammen kommt man ebenfalls beim Silent Reading Rave. Der Non-Profit-Verein aus Zürich zelebriert schweizweit die Freude am Lesen. Für etwa zwei Stunden liest dabei jede und jeder im eigenen Buch. Danach löst sich die Gruppe wieder auf, die gemeinsame Leidenschaft wird genossen, ohne danach durchdeklinieren zu müssen, was gefallen hat und was nicht.

Es gibt eine Szene im Film «Pulp Fiction», da sagt Uma Thurman mit Cocktailkirsche zwischen den Fingern zu John Travolta: «That’s when you know you’ve found somebody really special; When you can just shut the f*** up for a minute and comfortably share silence.» Tatsächlich gibt es kulturelle Unterschiede, wie diese komfortable Stille im Gespräch wahrgenommen wird. Menschen haben ein evolutionär bedingtes Verlangen nach Verbundenheit und Akzeptanz; wir sind soziale Wesen durch und durch. Wenn jemand nicht so schnell auf uns reagiert, wie wir es gern hätten, kann die Stille als Ablehnung interpretiert werden. Eine niederländische Studie ergab, dass es nur vier Sekunden Stille in einem Gespräch braucht, damit sich Amerikaner verunsichert oder abgelehnt fühlen. Japaner hingegen finden selbst eine Pause von bis zu 8,2 Sekunden völlig in Ordnung. Dazu passt das japanische Konzept Haragei. Haragei bedeutet wörtlich «Kunst des Bauchs». Es geht darum, das Gegenüber intuitiv zu verstehen, Botschaften und Mitteilungen mehr nonverbal zu senden und zu erspüren, als explizit verbal auszudrücken oder zu verstehen. Bei dieser subtilen Art der Kommunikation wird auf Mimik und Körpersprache geachtet, aber auch auf den gezielten Einsatz von Stille.

DIE GROSSE STILLE ALS GESELLSCHAFTLICHER TREND

Die Lust an der Stille ist keine neue Erscheinung, sie spielt in vielen traditionellen und spirituellen Riten eine zentrale Rolle. Als Schlüsselelement, um die Welt jenseits des Lärms und der Ablenkungen zu erfahren und das wahre Wesen der Realität zu erkennen. In unserer Gesellschaft nimmt die Suche nach Stille dabei nicht nur individuellen Charakter, sondern zunehmend gesellschaftliche Dimensionen an. Im Zuge einer grösseren Sensibilität gegenüber neurodiversen Menschen etwa, aber auch als allgemeines Bedürfnis. Ein Bedürfnis, dessen Institutionalisierung und Integration in öffentlichen und privaten Räumen stattfinden sollte. Stille könnte gezielt gefördert werden, um den Menschen eine Auszeit vom konstanten Lärm und Stress zu ermöglichen. In Städten wie New York werden bereits Lärmkameras eingesetzt, in der Stadtplanung kommen lärmmindernder Asphalt und grüne, schallschluckende Fassaden zum Einsatz. Lärm als Synonym für Produktivität und Fortschritt hat so sehr ausgedient, wie Stille rar geworden ist. Wer wirkliche Stille erleben will, muss oft weite Wege gehen oder in Orte investieren, die diesen Rückzugsraum bieten. Vielleicht sollten wir sie darum als Grundbedürfnis begreifen, als schützens- und erhaltenswert. Und den Zugang zu ruhigen, nicht ablenkenden Räumen einfordern.

In der Ausstellung «Silence» in der Pariser Cité des sciences et de l’industrie kann man ihr bis Ende August auf die Schliche kommen. Der akustische Rundgang endet mit John Cages legendärem Werk «4′33′′». Eine Arbeit, die mit der vermeintlichen Stille spielt. Denn der Inhalt von «4′33′′» definiert sich nicht durch totale Lautlosigkeit, sondern ist geprägt durch die Umgebungsgeräusche, die das Ohr des Zuhörers während der Performance erreichen. Hüsteln, Stühlerücken, das Rascheln von Stoff. Eine Anregung zum Nachdenken über Stille und Musik und dazu, die Welt als eine Art Klanglandschaft zu erleben. Denn Stille ist kein leeres Nichts. Sie ist Raum für Ideen, für Kreativität, für Klarheit. Vielleicht ist es an der Zeit, sich davon inspirieren zu lassen und die Stille wieder als das zu entdecken, was sie ist – ein seltenes Gut. In einer Welt, in der Lautstärke die Norm ist, wird Ruhe so zum bewussten Gegenentwurf. Pssssst.

Mehr laden