Malerinnen und Maler möchten für gewöhnlich etwas zeigen – die impressionistischen, die abstrakten, die expressiven. Was wollen Sie, wenn Sie mit Ihrer Sprühpistole auf Wände, Decken, Tücher oder Leinwände zielen?
Ich möchte das Verhältnis zur Präsenz zeigen, aber auch zum Fremden, zur Vitalität und zur Freiheit. Mir geht es bei meiner Arbeit darum, mich auf das Unbekannte einzulassen. Aber natürlich stehe ich auch in der Tradition der Malerei und will mich in einem ständigen Aktualisierungsprozess in ihre Geschichte einreihen.
Gibt es Arbeiten aus der Vergangenheit, die Sie besonders interessieren?
Mich faszinieren die Mosaike von Ravenna, dort war ich im letzten Sommer. Die Präsenz, die diese Bilder für sich beanspruchen, das Immersive, die Fähigkeit, ihren eigenen Körper zu entwickeln, und wie sie Resonanz mit meinem aufnehmen, ohne dass ich ihre Geschichte kenne, begeistert mich. Aber auch Monet, Munch oder die Künstler der Art informel, mit denen ich im Ruhrgebiet aufgewachsen bin, stehen mir nahe.
Munch? Monet? Das überrascht. Was genau ist es, das Sie diesen Männern nahestehen lässt?
Bei Munch ist es die Vehemenz, mit der er das Bild auf die Leinwand wirft, die Bewegung, die im Bild zu spüren ist. Seine Werke haben eine unheimliche psychische Power. Auch die Verbindung mit der Natur interessiert mich: die langen, dunkelvioletten Schatten, die seine Figuren umhüllen, als wären sie Luft. An Monet fasziniert mich seine Fähigkeit, Schwingungen wiederzugeben, das Ungefähre einzufangen – etwas, das zwischen dem Gesehenen und dem Erlebten steht.
Ihre Werke wirken oft wie ein Angriff, Sie setzen sich ohne Rücksicht über architektonische Gegebenheiten hinweg. Was reizt Sie daran?
Ich finde die Fokussierung auf das Bildobjekt unheimlich beengend. Bei mir ist das Werk nicht abgegrenzt. So hat es die Möglichkeit, die Umgebung und die Menschen miteinzubeziehen. Während meiner Zeit in Florenz erlebte ich täglich, wie Bilder Teil des Alltags, der Stadtmöblierung waren, sei es in Form der farblichen Staffelung eines Hauses, der Madonna an der Ecke oder von Fresken an den Wänden. Ich hatte deshalb nie das Gefühl, dass ich etwas Neues mache, wenn ich Farbe auf Wände auftrage. Ich sehe es eher so, dass ich eine Kultur belebe, die ganz selbstverständlich da ist.
Katharina Grosses Entscheid, Künstlerin zu werden, fiel erst im Alter von 21 Jahren. Ihre Mutter war schon Malerin, ihr Vater Germanist und Universitätsrektor in Bochum. Den Drang zum Expansiven aber hatte Grosse von Beginn weg. Als Studentin an den Kunstakademien Münster und Düsseldorf malte sie mit Kohle grosse Zeichnungen auf die Wände von Abrisshäusern. Wenn sie im Atelier arbeitete, pinselte sie schnell mal Skizzen auf die Stuhllehne oder das Fenster. Sie habe sich dabei nie gedacht: «Oha, jetzt passiert da etwas.» Für sie sei es selbstverständlich gewesen, die Leinwand zu verlassen.
Bei aller räumlichen Freiheit ist Katharina Grosse doch radikal diszipliniert. Was spontan wirkt, folgt in Wahrheit einem strengen Regelwerk: Sie benutzt nur eine begrenzte Anzahl von Farben und hält sich an einen bestimmten Bewegungsablauf. Sie interessiere, was passiert, wenn während dieser Wiederholung Abweichungen entstehen, die sie zu etwas Neuem führen, zu etwas, das sie nicht kontrollieren könne, sagt sie. Keine Komposition. Kein Zufall. Aber auch kein reines Kalkül.
Im Kunstmuseum Bern wird die Deutsche ab dem 3. März Gemälde zeigen, die zwischen 1988 und 2022 in ihren Ateliers in Deutschland und Neuseeland entstanden sind. Diese Bilder sind Kompressionen von Farbe und von Zeit, denn anders als bei temporären Grossinstallationen, kann Grosse beim kleineren Format immer wieder übermalen, die Leinwand geradezu mit Farbe überfrachten. «Es ist, wie wenn man immer mehr in einen kleinen Koffer packt», meint sie.
Malerei war lange eine Männerbastion. Als Sie Studentin waren, regierten die Neuen Wilden und Neo-Expressionisten. Wie schwer war es für Sie als junge Frau, sich Gehör zu verschaffen?
Mich haben diese Maler und ihre vehemente figürliche Kunst unheimlich fasziniert. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es schwierig werden würde, Fuss zu fassen. Damals dachte ich, mir stünde alles offen und ich könne alles lernen. Dass später, nach der Hochschule, alles nicht so einfach war für mich, dass selbst Lehrer mich nicht mehr ernst nahmen, hat mich überrascht.
Das heisst, Sie fühlten sich als Malerin anfangs nicht respektiert?
Ja, das würde ich im Nachhinein so sagen. Ich hatte Freunde, die sagten mir explizit, dass ich in der Malerei nichts reissen könne. Man empfahl mir, eine andere Herangehensweise zu wählen, Video zum Beispiel, weniger beackerte Felder, oder in die Richtung von Künstlerinnen wie Carolee Schneemann zu gehen. Es gibt ja praktisch keine Malerinnen in der Kunstgeschichte. Diesbezüglich hat sich in den letzten dreissig Jahren unheimlich viel geändert. Und gleichzeitig auch nicht.
Zum Beispiel finde ich ganz toll, was Katharina Fritsch in den letzten Jahren entwickelt hat. Aber wenn man Zeitung liest, sieht man immer nur Georg Baselitz und Gerhard Richter. Schaut man sich an, wie die Museen heute ankaufen, hat sich nicht viel verändert in den letzten dreissig Jahren. Das ist einfach irre! Die Bevorzugung von Männern ist wirklich hartnäckig. Ungleichheit wahrzunehmen, ist offenbar schwierig. Es ist nicht nur eine Frage der Macht. Wie stark die Diskrepanz in der Wahrnehmung von Männern und Frauen ausgeprägt ist, ist selbst den liberalsten Männern nicht klar.
Über mangelnde Akzeptanz können Sie sich nicht mehr beklagen. Ihre Kunst wird nicht nur von namhaften Museen gekauft, auch Luxusbrands beauftragen Sie, und man findet Ihre Werke an den Wänden der renommiertesten Galerien und Kunstmessen. Wie ist das, wenn man als Künstlerin so umarmt wird?
Ich habe erst mit 36 Jahren angefangen, mit meiner Kunst Geld zu verdienen. Als ich in den 1980er-Jahren aus der Akademie kam, war der Kunstmarkt gerade zusammengebrochen. Erst mit den Young British Artists kam er wieder in Fahrt.
Aber mit der Popularisierung der Kunst muss sich doch auch für Sie etwas geändert haben? Sie arbeiten heute ja wie viele erfolgreiche Künstler im Produktionsteam.
Mein Kernteam besteht aus sieben bis acht Leuten, darunter Kunsthistorikerinnen, eine Archivarin, ein Ingenieur, Künstlerinnen und Künstler – alle mit grosser Begabung in ihrem Feld. Der kulturelle Kontext von Kunst ist schon viel grösser geworden. Malerei ist nicht mehr nur ein mitteleuropäisches und amerikanisches Privileg. Und auch durch die Zugänglichkeit von Informationen übers Internet wird die Malerei heute neu gefasst. Ich selber habe zwei Formate entwickelt, die sehr verschieden voneinander sind. Das eine ist die aufwendige ortsbezogene Malerei. Das andere findet in meinen Ateliers statt und ist viel intimer. Diese Art des Arbeitens erfordert nicht nur ein gutes Zeitmanagement, sondern eben auch ein Produktionsteam. Es macht mir Spass, in verschiedenen Strukturen, in verschiedenen Ländern und Kulturen mit unterschiedlichen Produktionsfirmen zu arbeiten. Aber ich finde es auch toll, mich zurückzuziehen und ganz allein mit mir zu sein.
Birgt es auch Gefahren, wenn Kunst zum Spektakel gemacht wird?
Ich sehe keine. Letztlich ist es ja nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz der
Gesellschaft, der sich solche Sachen überhaupt anschaut. Das Endspiel der Fussball-WM – das ist ein richtiges Spektakel! Aber klar, meine Grossprojekte haben durchaus Festivalcharakter – Festivals im Sinne von grossen Marktplätzen, wo verhandelt und entschieden wird, wie man sich nach aussen darstellen will. Meine zwei Arten, dem Publikum gegenüberzutreten, kann man mit einem grossen Chorwerk mit Orchester und einem Solo-Pianorezital vergleichen. Das sind Aufführungsformen mit einer unterschiedlichen emotionalen Präsenz.
Sie sind ein Künstlerbrand geworden, ihre Arbeit erkennt man sofort. Für jemanden, der gern Grenzen durchbricht, muss das ein Fluch sein.
Klar geht man sich selbst mit der Arbeit auch ein bisschen auf den Wecker. Ich habe diese eine Stimme auf Kosten von anderen Stimmen so stark gemacht. Sie muss das aber auch sein, damit sie gehört und gesehen wird. Es gibt ganz viele Dinge, die ich nicht tue. Aber ich tue in meinem Leben auch sonst ganz viele Sachen nicht, damit ich im Studio das tun kann, was ich tue. Im Leben muss man sich immer wieder für und gegen etwas entscheiden. Das kann nervig sein.
Andere Künstler nehmen sich die totale Freiheit und arbeiten interdisziplinär.
Eine ähnliche Art von Befreiung finde ich beim Malen meiner grösseren, ortsbezogenen Projekte.
Wie laden Sie eigentlich Ihre Batterien auf?
Mit Nichtstun. Indem ich aufs Meer schaue, Musik höre. Aber ich lerne auch gern Neues, momentan zum Beispiel Maori. Ich schaffe mir seit Langem sehr bewusst die mentalen Voraussetzungen für meine Arbeit. Ich meditiere zum Beispiel und bin viel draussen. Diese mentale Vorarbeit ist vielleicht fast die grössere als die körperliche.
«Katharina Grosse: Studio Paintings, 1988 – 2022», Kunstmuseum Bern, 3. März bis 25. Juni.
«Bei mir ist das Werk nicht ab–gegrenzt. So hat es die Möglichkeit, die Umgebung und die Menschen miteinzubeziehen.»
– Katharina Grosse, Künstlerin