Physik war in der Schule eines meiner Lieblingsfächer. Mechanik, Optik, Wärmelehre, ich liebte die einfachen Gesetze, nach denen sich Gegenstände im Raum bewegten, Licht sich ausbreitete, Wärme von einem Objekt auf ein anderes überging. Selbst wenn das Thema komplizierter wurde, war es mit etwas Aufwand doch zu begreifen. Aber das Glück währte kurz. Denn die Welt, das machte uns unser Lehrer bald klar, funktionierte natürlich ganz anders, war viel komplexer als unsere Berechnungen. Einer der Störfaktoren war die Reibung, die die ganze schöne Mechanik ruinierte und sich kaum berechnen liess. Immerhin profitierte ich in vielen Lebenssituationen von ihr, etwa wenn ich auf einen Baum oder einen Felsen kletterte oder mir meine rauen Sohlen Halt gaben auf dem Untergrund. Ohne Reibung würde jeder Motor durchdrehen, würde jede ungebremste Bewegung sich ins Unendliche fortsetzen.
Im Austausch mit anderen werden wir ebenfalls dauernd gebremst, was in der Physik die Reibung ist, sind im sozialen Umgang unser Anstand, unser Schamgefühl, oft auch nur die Angst vor der direkten Widerrede anderer. Im Internet hingegen gibt es keine Reibung und keinen Widerstand. Wir können uns ungebremst und ohne Scham über alles auslassen. Wozu das führt, kann man in den Kommentarspalten und in den sozialen Netzwerken lesen. Nur schon die oft prekäre Rechtschreibung in diesen Foren lässt erahnen, dass die Äusserungen unkontrolliert ins Netz geflossen sind. Müssten die Verfasser ihre Kommentare über unliebsame Politiker, Künstlerinnen, Schauspieler, Sportlerinnen, aber auch Mitschülerinnen oder Lehrer vor Publikum oder gar vor den Geschmähten selbst vortragen, wären sie vermutlich nur halb so hasserfüllt. Oft reicht es schon, auf einer Seite im Netz keine anonymen Kommentare mehr zuzulassen, und sofort ändert sich der Tonfall und die Beiträge werden zivilisierter, ausgewogener, durchdachter.