Athen ist eine Stadt der historischen Superlative. Sie ist seit der Jungsteinzeit durchgehend besiedelt und damit eine der ältesten Städte Europas, sie gilt als die erste Demokratie der Geschichte, die ersten modernen Olympischen Spiele wurden hier ausgetragen, und 1985 wurde die Metropole zur ersten Kulturhauptstadt Europas gewählt. Kaum eine andere europäische Stadt verfügt über derart viele erhaltene Monumente aus der Antike wie Athen. Während der politische und kulturelle Einfluss der Stadt in der Neuzeit weit weniger prägend ist, bleibt Athen doch immer eines: ein Ort von Kreativität und Tatendrang.
Jetzt und ewig
Von jahrtausendealten Götterhäusern und avantgardistischen Cocktailkreationen: das immer wieder neue Athen.
Die griechische Hauptstadt ist ein Paradoxon: antik und modern, tiefenentspannt und voller Leben. Vor allem aber ist sie eins: ein krisenerprobtes Stehaufmännchen. In ihrer 7500-jährigen Geschichte hat sie schon viele dunkle Zeiten durchlebt. Sie kämpfte mit Hungersnöten, Plünderungen und war immer wieder Schauplatz von Kriegen und blutigen Revolten.
In jüngerer Zeit war es in erster Linie die griechische Finanzkrise von 2010, die Athen in die Knie zwang und die Stadt ins wirtschaftliche und soziale Elend stürzte. Der drohende Staatsbankrott und rigorose Sparmassnahmen führten dazu, dass das Leben in den Gassen vor die Hunde ging: Geschäfte mussten schliessen, Arbeitsplätze gingen verloren, die Bewohner zogen, getrieben von Frustration und Existenzangst, randalierend durch die Strassen. Und wie immer in der Geschichte der Welt waren es erst eine Handvoll und dann immer mehr, die die Krise als Chance sehen wollten und ihre Köpfe zusammensteckten, um ihrer geliebten Stadt mit innovativen Ideen zu neuem Leben zu verhelfen. Mit viel Kreativität und dem Grundoptimismus, der so vielen Sonnenstaaten eigen ist, holten die Athener das Leben zurück in die Strassen und das Geld zurück in die Stadt. Dank neuen Kultadressen und der typisch griechischen Gute-Laune-Mentalität wurde die Stadt quasi über Nacht von der historischen Ruinenstätte zur hipsten Metropole Europas. Anfang 2020 war die Wirtschaft am Florieren. Das Jahr 2020, so war man überzeugt, würde für Griechenland das beste Jahr seit mehr als einer Dekade werden.
Und dann die Pandemie. Gerade jährte sich in Griechenland zum zehnten Mal der unschöne Tag, an dem die Regierung den Internationalen Währungsfonds IWF und die anderen EU-Staaten um Finanzhilfen bitten musste, da erreichte Covid-19 den Kontinent. Die Pandemie stürzte Volkswirtschaften rund um den Globus in tiefe Rezessionen. Als Land, das mehr als die meisten Staaten vom internationalen Tourismus abhängig ist – Gastronomie und Hotels sind für jeden zehnten Arbeitsplatz verantwortlich –, traf die Krise Griechenland besonders hart. Athen fand sich zum zweiten Mal innert zwanzig Jahren auf dem Weg in eine Depression. Während man in Geldnot und Arbeitslosigkeit geübt war, schlug die physische Isolation den hypersozialen Athenern schwer aufs Gemüt. Eine Kultur, die vom lärmigen Beisammensein lebt – eingefroren und ausgebremst.
Als sich die pandemische Lage im Frühling 2021 zu entspannen schien, liess man sich nicht zweimal bitten, feierte in alle Nacht hinein und bis zum Morgengrauen. Und genau wie nach der letzten Krise begann man, die Scherben aufzuwischen und zurückzuholen, was verloren gegangen war.
Das kreative Potenzial ist gross
Denn die Athener, so scheint es, sind keine Freunde der Halbherzigkeit. Sind sie erzürnt, so sind sie es aus tiefster Seele, lieben sie, so tun sie es mit Haut und Haar. In einem nie enden wollenden Wechselbad der Gefühle verfluchen sie ihre Stadt und feiern sie, quittieren jede Krise mit Revolten und stehen doch voller Elan bereit, sobald es an den Wiederaufbau geht. Für eine Stadt mit so viel mythischem und kulturellem Ballast ist Athen fast schon irritierend jung und ungestüm. Der kulturell geprägte Drang nach Geselligkeit verlagert das Leben auf die Strasse, von den 665'000 Einwohnern des eigentlichen Stadtbezirks scheint kaum einer viel Zeit zu Hause zu verbringen. Selbst an Wochentagen tobt in den Ausgehbezirken Monastiraki, Psiri und Exarchia bis tief in die Nacht das Leben, die Dichte an Restaurants, Bars und Klubs in der Gegend ist schwer zu übertreffen. Quantität – aber auch Qualität: Athens Barszene hat Weltniveau. Zwei Institutionen, das «Baba au Rum» sowie die Bar «The Clumsies», wurden 2020 unter die fünfzig besten Cocktailbars der Welt gewählt. Entspannte Weinbars servieren in coolen Interieurs lokale Naturweine, von denen die Welt wohl völlig zu Unrecht noch nie gehört hat. Von mediokrem Fast Food über verwunschene Cafés und progressive Gastrokonzepte bis hin zum klassischen Fine Dining – Athen offeriert alles und alles in rauen Mengen.
Das kreative Potenzial ist gross, das Budget klein: Geprägt von den grossen Krisen der letzten zwei Jahrzehnte, fehlt es der Athener Szene nicht an Ideen, sondern an den finanziellen Mitteln, um diese zu verwirklichen. Doch, so muss man glauben: Auch dieses Problem werden sie zu meistern wissen. Athen hat schon viele Krisen gesehen, und die Pandemie, egal wie lange sie unseren Alltag noch prägen mag, wird nicht die letzte sein. Vielleicht steht das Pantheon nicht umsonst da, wo es steht, auf einem Hügel hoch oben über den Dächern der Stadt: als Symbol für die Fähigkeit ihrer Bewohner, zu überdauern, zu überwinden. Und sich immer wieder neu zu erfinden.