Wanderrestaurant Ona

Mal hier, mal dort

Das Wanderrestaurant Ona wechselt alle paar Monate den Standort, bespielt ungewöhnliche Schauplätze und holt die Sterneköche von morgen an den Herd.

Wanderrestaurant Ona

Die Instruktionen kommen per E-Mail: Man möge sich bitte am festgelegten Tag zur vereinbarten Uhrzeit an der angegebenen Adresse einfinden. «Jemand vom Team wird zum Empfang am Eingang stehen.» Der Eingang gehört zu einem verwitterten venezianischen Palazzo aus dem frühen 17. Jahrhundert, der sich direkt am Rio dei Mendicanti im wenig touristischen Stadtteil Cannaregio befindet. Zur vereinbarten Zeit steht dort allerdings niemand. Immerhin klebt neben einem Klingelknopf ein kleiner weisser Sticker, auf dem «Ona» mehr zu erraten denn zu lesen ist.

«Ona» ist ein Pop-up-Restaurant der ungewöhnlichen Art, gegründet von Luca Pronzato aus Paris. Seine Vision: ein Wanderrestaurant, in dem Nachwuchstalente aus den besten, interessantesten, angesagtesten Restaurants der Welt kochen. Mit dieser Idee bekam das inzwischen nicht mehr taufrische Konzept des temporären Restaurants neuen Schwung: «‹Ona› schliesst zwar an Ort X, macht aber an Ort Y wieder auf», erklärt der Erfinder. «Es ist nur geografisch betrachtet temporär. Global gesehen, sind wir fast immer irgendwo präsent.»

Der ausgebildete Sommelier Pronzato ist in die Gastronomie hineingeboren. Seine aus Italien stammenden Eltern führen bis heute den kleinen Pariser Feinkostladen Mille Pâtes gleich hinter dem Palais Royal. «Sie waren Pioniere der Slow-Food-Bewegung und haben sich immer für hochwertige Produkte und die Nähe zu deren Erzeugern eingesetzt», erzählt Pronzato. Das hat ihn ebenso geprägt wie der Job in einer Pariser Weinbar, mit dem er sein Betriebswirtschaftsstudium an der Sorbonne finanzierte. Durch die Weinbar kam er zum Kult-Champagnerproduzenten Anselme Selosse und von dort ins «Noma» Kopenhagen. Er blieb drei Jahre und war dabei, als das «Noma» einen Ableger in Mexiko einrichtete. «Es war ein ehrgeiziges Projekt und für mich eine grossartige Erfahrung.»

Daraus und aus seiner Lust auf ein gastronomisches Konzept, in dem sich auch Kellner und Sommeliers kreativ einbringen können, entstand «Ona», katalanisch «Welle». «Unsere Idee besteht darin, Restaurants zu entwerfen, die Kochkunst und Design miteinander verbinden, die überall funktionieren und sich gleichzeitig auf lokale Gegebenheiten einlassen. Und dadurch nach und nach eine fest verbandelte Mannschaft von internationalen Spitzenköchen zu bilden.»

Das erste «Ona» wurde im April 2019 an der portugiesischen Costa da Caparica eröffnet. Es folgten Pop-ups in Lissabon, Paris und Zermatt, noch bis zum 19. Juni bespielt «Ona» eine Dachterrasse in Mexiko-Stadt. Der aktuelle Ableger in Venedig ist Teil der neu aufgelegten Reihe «Ona on Tour», die Europas wichtigsten Kunst-, Design- und Architekturmessen folgt. Sie startete im April zum Auftakt der Biennale, im Juni folgen Gastspiele zum Salone del Mobile in Mailand und zur Art Basel in Basel.

Einmal klingeln, und das Palazzo-Portal springt auf. Dahinter: ein Treppenhaus mit antikem Terrazzo-Boden, fantastischen Fresken und einem kunstvoll gearbeiteten Treppengeländer. Im ersten Stockwerk ist eine Tür nur angelehnt. «Come in», ruft die britische Sommelière Lucy Rosedale und reicht zur Begrüssung einen venezianischen Spritz. Die Location ist umwerfend und beeindruckt mit opulentem Stuck, holzvertäfelten Wänden, riesigen Murano-Leuchtern, kunstvoll bemalten Balkendecken und mit mythologischen Motiven verzierten Fensterscheiben. Im Salon steht eine gigantische weiss gedeckte Tafel für fünfzig Gäste, vom Balkon aus sind der Kanal, die Lagune und sogar der Campanile vom Markusplatz zu sehen.

Die Adressen, an denen «Ona» sich einmietet, sind stets besonders. In Basel, wo das Wanderrestaurant schon im Juni 2019 Art-Basel-Besucher und andere Gäste bekochte, war es das ehemalige Wasserreservoir Filter 4, das Anfang des letzten Jahrhunderts auf dem Bruderholz gebaut wurde und die Basler Haushalte mit Trinkwasser versorgte. Pronzato hat dessen unterirdische Hallen durch eine Laserinstallation optisch unter Wasser gesetzt und matt schimmernde Holztische in die gewölbten Räume gestellt. Auf dem Vorplatz sass man unter mächtigen Blutbuchen – mit Blick auf Basel und auf den grossen Grill, an dem ganze Lämmer langsam vor sich hin brutzelten. Die Lämmer kamen aus dem Jura, die Köche aus Paris: aus dem Sterne-Restaurant Septime und dem unter Gourmets ebenfalls hochgelobten japanischen «AT».

Das sind zwar Top-Adressen, doch wer dort nicht die Chefmütze trägt, darf Gemüse putzen, Saucen binden, Fleisch braten – und schuften, schuften, schuften. «Die jungen Köche kommen nicht dazu, ihre Kreativität einzusetzen», erklärt Pronzato, «sie führen aus, was der Chef will. Das ist schade.» Bei «Ona» laufen die Dinge anders: Pronzato selbst ist für die Gesamtorganisation zuständig, sucht und bucht Locations, findet junges, motiviertes Personal, berechnet Kosten und kümmert sich um das Marketing. Am Herd aber regieren die Köche. «Wir bieten Nachwuchstalenten eine Plattform. Sie können sich ausprobieren, Erfahrungen sammeln und lernen, ein Restaurant zu führen. Die Gäste profitieren von ihrem Enthusiasmus und ihrem grossen Engagement.»

«Ona» hingegen profitiert von der ungebrochenen Popularität des Pop-up-Formats. Mit unkonventionellen Konzepten an aussergewöhnlichen Adressen machen Kurzzeitlokale etablierten Restaurants Konkurrenz. Begrenztheit – sowohl im zeitlichen als auch im räumlichen Sinne – ist dabei Teil der Marketingstrategie: Wer in Foodie-Kreisen mitreden will, muss über die nur halbwegs offiziellen Events Bescheid wissen und da gewesen sein. «Wir arbeiten mit vielen grossen Namen der Modebranche: Chanel, Hermès, Maison Margiela und die französische ‹Vogue› haben uns für ihre Events engagiert, aber auch die Champagner-Maison Ruinart sowie diverse Privatpersonen.»

Nach einem Moment der Schreckensstarre hat «Ona» sogar die Pandemie Aufwind verschafft. Als Erstes mit den «Paniers»: Körbe mit Zutaten für ein Dreigangmenü und die dazugehörige digitale Kochanleitung von wechselnden «Ona»-Küchenchefs wurden nach Hause geliefert – allerdings nur in Paris. Dann wurde «We are Ona Private Chefs» lanciert: Dank seinem internationalen Netzwerk engagiert Luca Pronzato fast überall auf der Welt Spitzenköche, die ein massgeschneidertes Esserlebnis in den Privatküchen von Kunden kreieren. Seit diesem Frühling funktioniert «Ona» nun fast wieder normal, und Pronzato hat für das laufende Jahr diverse Projekte in der Pipeline. Welche genau, verrät er aber nicht.

In Venedig wird das «Ona»-Küchenteam vom 29-jährigen Franko-Vietnamesen Thomas Coupeau geleitet. Sein Menü startet mit einer Auster – wie es sich für einen Küchenchef aus Paris gehört. Die rohe Meeresfrucht wurde allerdings durch eine Sauce aus kalabresischer Nduja-Wurst italienisiert und durch fein geschnittene Limequats exotisch aromatisiert. So mischt sich die jodhaltige Frische der Auster mit der leicht fetten Schärfe der Wurst und der süssen Säure der Zitrusfrucht zu einer ungewöhnlichen, aber durchaus harmonischen Kombination.

Spass macht der Pasta-Gang, der an eine Carbonara erinnert, aber ohne Nudeln auskommt. Auf rohem, in Tagliatelle-Streifen geschnittenem Tintenfisch thront ein in Salzwasser mariniertes Eigelb. Für Würze sorgen knusprig gebratene Cotechino-Streusel, eine Sauce auf Pecorino-Rinden-Basis und frischer geriebener Pecorino-Käse. Zu den Hauptgängen zählt ein Stück roter Thunfisch, der «alla Rossini» mit gebratener Entenleber und einer Madeirasauce serviert wird, zu den Desserts eine samtige, tiefschwarze Mousse au Chocolat mit frittierten Kapern. Das Menü kostet 95 Euro – ein Schnäppchen mit hohem Unterhaltungsfaktor.

Schweizer «Ona»-Fans warten nun gespannt auf das, was ab dem 12. Juni in Basel geboten wird. «Unser Motto heisst wie schon 2019 ‹Basel on Fire›. Auch die archaischen Asado-Eisenstangen kommen wieder zum Einsatz, damit können ganze Tiere gegrillt werden. Aber das Menü wird natürlich ein anderes sein.» Mehr verrät Luca Pronzato nicht – «Ona» kultiviert den Überraschungseffekt. Sicher ist: Uhrzeit und Adresse werden gebuchten Gästen vierundzwanzig Stunden vor dem Event kommuniziert; wer sie bekocht und was serviert wird, bleibt bis zum Schluss ein Geheimnis.

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