Mit Intellekt, Charme und Chuzpe

David Graeber – Anthropologe, Aktivist und Vordenker

David Graeber ist Anthropologe, Aktivist und Vordenker der Occupy-Wall-Street-Bewegung. Wer ist der Mann, der mit Gelassenheit grösste Gegensätze in sich bündelt?

01-Sebastian-Haslauer

Eigentlich müsste das alles in der Vergangenheitsform geschrieben werden. Denn keine vier Wochen nachdem er das Manuskript zu seinem jüngsten Wälzer «Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit» abgeschlossen hatte, ist Graeber (1961-2020) im September 2020 überraschend mit erst neunundfünfzig Jahren in Venedig an einer Bauchspeicheldrüsenentzündung gestorben. So wird sein letzter Bestseller zu einem zukunftweisenden Vermächtnis, das unsere frühe Geschichte umschreibt.

Es sträubt sich alles dagegen, die Originalität und Frische der Gedankenwelt dieses so akribischen wie schalkhaften Forschers nicht ganz gegenwärtig und quicklebendig zu beschreiben. Denn wenn der Amerikaner in seiner Forschung auch sehr weit zurückschaut in der Menschheitsgeschichte, hat er dabei doch immer die Gegenwart und die Zukunft mit im Blick. Zehn Jahre hat er mit dem britischen Archäologen David Wengrow (49) an diesem letzten Mammutwerk gearbeitet. Mit der riesigen Materialfülle, die sie zur Thematik zusammengetragen hatten, wollten sie drei weitere Bände folgen lassen.

Bereits in der ersten Woche nach der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe kletterte das Buch im Februar auf Platz eins der «Spiegel»-Bestsellerliste. Und hält sich dort weiterhin in den Top Ten. Woher kommt dieses verblüffende Interesse der Gesellschaft für Vorgänge und Entwicklungen aus der Frühzeit der Menschheit?

Graeber und Wengrow erzählen die Menschheitsgeschichte neu und anders. Und stützen sich dabei auf eine Überfülle an archäologischen und anthropologischen Befunden jüngerer Forschung, die in Teilen an Kriminalistik erinnert. Ein Indizienprozess für Spürhunde und Tüftler.

Das seltsam unhinterfragte Narrativ der Zivilisationsgeschichte lautete bisher so: Die frühen Menschen lebten nomadisch und friedlich in kleinen Gruppen als Jäger und Sammler. Mit der Erfindung der Landwirtschaft wurde der Mensch sesshaft, und mit dem ersten Menschen, der sein Land umzäunte, entstand das Privateigentum. So kam die Ungleichheit in die immer grösser werdenden Gemeinschaften, es bildeten sich Hierarchien, Macht, Ausbeutung und Gewalt heraus. Es klingt nach der Vertreibung aus dem Paradies durch Vergesellschaftung.

Diese Erzählung geht zurück auf Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) Essay «Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen» von 1755, den der französisch-schweizerische Aufklärer allerdings als reines Gedankenexperiment und nicht als empirische Studie verfasst hatte. Sein Text ist auch als Gegenthese zu Thomas Hobbes’ (1588-1679) «Leviathan» von 1651 zu verstehen, in dem der englische Philosoph den Menschen im Naturzustand als ein grundegoistisches Wesen im ewigen «Kampf aller gegen alle» beschreibt. Nur die Übertragung aller Gewalt auf einen absolutistischen Herrscher, dessen Strafe man fürchtet, könne das allgemeine Gemetzel verhindern.

Diese beiden antagonistischen Narrative bestimmen bis heute den Diskurs, wobei Linke tendenziell eher zu Rousseau («der Mensch ist von Natur aus gut») und Rechte eher zu Hobbes («der Mensch ist von Natur aus böse») neigen. Graeber und Wengrow entlarven mit ihrer empirischen Forschung beide Haltungen als Mythen. Und ihre reichhaltigen Befunde zeigen:

Geschichte verläuft nicht linear und mechanistisch nach bestimmten Modellen. Die Übergänge von Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften zu Ackerbau und Viehzucht, von egalitär zu hierarchisch, von Gemein- zu Privatbesitz können auch gleichzeitig nebeneinander und in Zwischenformen existieren, oder sie verändern sich hin und zurück. Oder die Sozialformen wechseln sich zwischen hierarchisch und egalitär sogar saisonal ab, wie bei der Errichtung der gewaltigen Kultstätte von Stonehenge um 3000 v. Chr. in England.

Vorchristliche Kultorte und Megastädte wie Göbekli Tepe und Catalhöyük in der Türkei, Taljanky und Nebelivka in der Ukraine oder Teotihuacán im mexikanischen Hochland wurden von Zehntausenden Menschen bewohnt. Und überall finden sich Hinweise auf egalitäre Strukturen. Manche würde man heute als Beispiele für sozialen Wohnungsbau bezeichnen.

Anders als Autoren wie Yuval Noah Harari (46, «Eine kurze Geschichte der Menschheit», 2011), der die frühen Menschen für eine Art Affen hält, gehen Graeber und Wengrow davon aus, dass sie die grundsätzlich identische Gehirnstruktur wie wir besassen und als mit Intelligenz und Fantasie begabte Wesen betrachtet werden müssen. Sie halten deshalb die Vorstellung für bizarr, dass in der grossen Spanne von Abertausenden von Jahren, seit Menschen Kultgegenstände schafften und ihre Höhlen und Wohnräume mit Malereien schmückten, nichts Wesentliches passiert sein und niemand mit alternativen Formen der sozialen Organisation experimentiert haben soll. Damit durchbrechen die beiden Forscher den deprimierenden Determinismus bisheriger Geschichtsschreibung. Und damit ist man auch beim Kern von David Graebers wissenschaftlichem, sozialem und politischem Wirken. David Graeber steht für ein Menschenbild der experimentierfreudigen Selbstbestimmung. Mit sichtlicher Lust schaut er – sowohl als Forscher wie auch als politischer Aktivist – auf das herrschaftsverweigernde Potenzial der Menschen, die den Lauf der Dinge in die eigenen Hände zu nehmen versuchen. Und genauso wurde er nach der Finanzkrise 2008 zum Mitbegründer und Vordenker der gewaltfreien Occupy-Wall-Street-Bewegung im Finanzdistrikt von Manhattan, die weltweit Nachahmer fand. Graeber gilt als Erfinder des Slogans der Bewegung: «We are the 99 percent.»

«Was letztlich hinter dem Reiz der Bürokratie steht, ist die Angst vor dem Spiel.» – David Graeber, Anthropologe

Weltweit war auch das Aufsehen, das er 2011 mit seinem Bestseller «Schulden. Die ersten 5000 Jahre» erregte. Graeber entlarvt darin das Konzept von Geldschulden als gewieftes Unterdrückungsinstrument und zeigt auf, wie unser Selbstverständnis, die Moral und die Struktur unserer Gesellschaft dadurch geprägt werden. Seither ist er zu Gast in diversen Talkshows, in der «Sternstunde Philosophie» auf SRF oder bei Lukas Bärfuss (50) im Schauspielhaus Zürich, ein blitzgescheiter, warmherziger Debattierer mit viel Charme und subversivem Humor. Graeber ist zum Popstar der Kapitalismuskritik geworden, aber bescheiden und freundlich geblieben.

Mit dem Band «Bürokratie. Die Utopie der Regeln» legt er 2015 nach und schreibt nur drei Jahre später einen weiteren Bestseller: «Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit». Damit meint er nicht etwa die schlecht bezahlten «shit jobs» wie Putzen oder Care-Arbeit, die zumindest einen gesellschaftlichen Nutzen haben. Sondern meist überdurchschnittlich entlöhnte, nach seinem Empfinden sinnlose Tätigkeiten, die unproduktiv und somit an sich überflüssig sind: Immobilienmakler, Investmentbanker, Unternehmensberater. Im heutigen «Kamikaze-Kapitalismus», so Graeber, seien mindestens ein Drittel solche Bullshit-Jobs. Die «FAZ» bilanziert: «David Graeber ist nicht nur radikal, er ist auch amüsant, eine gefährliche Mischung.»

Wo aber liegen die Wurzeln dieses «aufgeschlossenen Anarchisten», wie Graeber sich selbst nennt? Aufgewachsen ist er in einer jüdischen Arbeiterfamilie mit deutschen Vorfahren in New York. Sein Vater beteiligte sich im spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Anarchisten als Kämpfer gegen Diktator Franco. Für seine Dissertation geht Graeber für zwei Jahre nach Madagaskar und forscht in einer ländlichen Gemeinschaft über Erinnerungskultur und Gewalt. Er engagiert sich während vieler Jahre für die bedrohten Kurden in Rojava, die bekannt sind für ihre egalitären Strukturen unter starker Beteiligung der Frauen.

Wegen seines politischen Engagements verliert Graeber die Wohnung in New York, in der er seit seiner Geburt gelebt hat. Auch seine Professur an der Yale University wird ihm nicht verlängert – ohne Angabe von Gründen, aber man muss auch hier davon ausgehen, dass es politische waren. Seither lehrt Graeber zuerst am Goldsmiths College der Universität London und schliesslich an der renommierten London School of Economics. Gemeinsam mit seiner Frau, der Künstlerin Nika Dubrovsky (54), veröffentlicht er, der unermüdliche Aufklärer, die Bücher-, Workshop- und Vortragsreihe «Anthropology for Kids».

Bleibt das Schreckgespenst Anarchismus. Wenn es nach David Graeber selbst geht, sind die meisten von uns Anarchisten. Denn Anarchismus habe nichts mit Chaos, Gewalt und Zerstörung zu tun, sondern beruhe auf zwei einfachen Grundannahmen. «Erstens: Unter gewöhnlichen Umständen sind Menschen so vernünftig und anständig, wie man sie sein lässt, und sie organisieren sich selbst und ihre Gemeinschaften, ohne dass man ihnen sagen müsste, wie. Zweitens: Macht korrumpiert.» Das grundlegendste anarchistische Prinzip, sagt er, sei die Selbstorganisation: Menschen müsse nicht mit Strafverfolgung gedroht werden, damit sie vernünftige Vereinbarungen treffen und sich mit Würde und Respekt begegnen.

David Graebers Anarchismus ist die Überzeugung, dass wir fähig sind, ein solidarisches Miteinander zu pflegen. Dass Sozialverhältnisse, die von Geld bestimmt werden, Gewalt, Entmenschlichung und Sklaverei produzieren. Und dass einfache, normale Menschen ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen, in langen basisdemokratischen Prozessen etwas in Gang setzen und damit eine Gesellschaft und sich selbst verändern können. So schlicht, so revolutionär, so menschenfreundlich.

Info:

«Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit» von David Graeber und David Wengrow ist 2022 bei Klett-Cotta erschienen.

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