Spätestens seit der Art Basel 2022 kennt man Louisa Gagliardi. Dort wurde an der «Unlimited»ihr 3,70×11 Meter grosses Gemälde «Tête-à-tête» gezeigt, die Momentaufnahme eines Essens an einem runden Tisch: aufeinander gestapelte Teller, herumliegende Flaschen, zerbrochene Gläser, eine angeschnittene Torte und zwei Personen mit fahlen Gesichtern, die auf ihren Stühlen kauern. Die verstörende Szene erzählt von Entfremdung, Angst und dem Verlorensein in einer hedonistischen Welt. Damit kommt die 34-jährige Walliserin an. In den nächsten Monaten gibt es gleich zwei Soloausstellungen von ihr zu sehen: im Cultuurcentrum Strombeek vor den Toren Brüssels (bis 18. Mai) und in Seoul bei der Galerie Eva Presenhuber in Kooperation mit Taxa (bis 13. April). Wir besuchten Louisa Gagliardi kurz davor in ihrem Atelier in Zürich.
Zwischen Nähe und Distanz
Ihre Mittel sind der Computer und Social Media. Sie bewegt sich in Traumwelten und bezeichnet sich doch als Realistin. Die Schweizer Künstlerin Louisa Gagliardi verrät in ihren Werken nicht nur viel über sich selbst, sondern auch über ihre Generation.
BOLERO Ihre Ausstellung im Cultuurcentrum Strombeek trägt den Titel «Deep Breaths». Was möchten Sie damit sagen?
LOUISA GAGLIARDI «Deep Breaths» bedeutet so viel wie: Tief durchatmen! Oder: Beruhige dich! Ich habe den Titel gewählt, weil ich meine, dass es heute ein hohes Mass an Angst in meiner Generation gibt. Es herrscht so etwas wie eine Weltuntergangsstimmung, befördert vom Klimawandel und den sozialen Medien.
Drückt sich dieses Gefühl auch in Ihren Werken aus?
LOUISA GAGLIARDI Normalerweise zeige ich Personen in ihrem häuslichen Umfeld, doch diesmal habe ich auch Tiere und Landschaften gemalt. Es sind jedoch nur scheinbar beruhigende Motive. Ganz im Gegenteil entwickelt sich in den Werken eine beängstigende Atmosphäre. Es gibt zum Beispiel ein grosses Gemälde mit dem Titel «Golden Hour». Es zeigt ein Weizenfeld, über dem ein dunstiger Schleier liegt. Das Feld ist abgeerntet, das Gras wurde in grosse Strohballen gepresst. Die Szene drückt die Gewalt aus, die die Menschen der Natur antun. Wir müssen alles vermessen, an uns reissen und mit der Hilfe von Technologie kontrollieren.
Welche Rolle spielen die Tiere?
Auf einem Gemälde steht ein Fuchs auf einer Wiese. Im Hintergrund ist ein Haus mit erleuchtetem Fenster. Je mehr man sich mit dem Motiv beschäftigt, desto unheimlicher wird es. Es liegt eine tiefe Traurigkeit über der Szene. Sie ist in mehreren Ebenen aufgebaut und wirkt wie von einer Kamera eingefangen. Das drückt die Entfremdung von uns selbst aus. Etwas Ähnliches passiert auf einem Aktbild, in dem eine Person in der Dusche steht. Die Glastrennwand liegt vor ihr, überzieht den nackten Körper mit einem Filter und lässt alles diffus wirken.
Wie entstand die Szenografie der Ausstellung? Haben Sie das Museum im Vorfeld besucht und sich die Räumlichkeiten angesehen?
Ja, ich war dort und habe die Hängung sehr bewusst entworfen. Die Ausstellung beginnt in einem grossen rechteckigen Raum. Ich habe neun weisse Stellwände bauen lassen, die auf der Fläche verteilt sind. Davor oder dazwischen hängen die Gemälde. Ausserdem sind zwei Seitenwände komplett mit Spiegelfolie beklebt. Die Installation wird so in die Unendlichkeit verlängert, und man hat das Gefühl, man befände sich in einem Labyrinth. Um hinauszukommen, müssen die Besucher einen vorgegebenen Weg nehmen. Es ist wie im richtigen Leben: Man hat oft die Vorstellung, man hätte die Wahl, doch das ist falsch. Ich hatte das Glück, mit der grossartigen Kuratorin Charlotte Crevits und dem holländischen Architekten Karel Bruyland zusammenzuarbeiten.
Und wie geht die Ausstellung weiter?
Am Ende betritt man einen kleineren Raum in der Form eines Hexagons. Hier hängen fünf Porträts von verschiedenen Personen. Alle stehen vor einem Waschbecken und sind auf Spiegelfolie gemalt. Das Besondere an den Porträtierten ist, dass sie den Betrachter nicht anschauen. Sie schauen an ihm vorbei und werden in den gegenüberliegenden Porträts gespiegelt. Dieser Effekt wiederholt sich ohne Ende.
Die Motive erinnern an ein Selfie im Badezimmer.
Ja genau. Es sind Szenen, die in meiner Arbeit immer wieder auftauchen. Sie erzählen davon, dass wir mit der uns zur Verfügung stehenden Technologie und den sozialen Medien immer mehr die Möglichkeit haben, eine Kunstperson zu erschaffen. Wir inszenieren, bearbeiten und filtern uns. Wir leben in einer Blase, die noch dazu von einem Algorithmus bestimmt wird. Unser wirkliches Ich aus der realen Welt kommt damit gar nicht mehr vor. Die sozialen Medien sind wie eine Flucht, wie ein Medikament, das uns kurzzeitig hilft, uns besser zu fühlen. Allerdings löst sich damit nicht das grössere Problem.
Haben Sie selbst auch Schwierigkeiten, sich zu öffnen?
Ich muss mich zwingen, überhaupt dieses Interview zu führen. Ich könnte es ja auch per E-Mail machen. Im Gespräch kann ich nicht die perfekten Worte wählen und zum Punkt kommen. Ich werde ein bisschen von allem erzählen, und Sie werden dann meine Aussagen bearbeiten. Das macht mir Angst. Wir sind inzwischen so an die Distanz gewöhnt. Besonders seit Covid.
Dann ist Ihre Arbeit also auch so etwas wie ein Ventil?
Natürlich verarbeite ich meine Gefühle. Wenn Künstler wichtige Themen ansprechen, tun sie dies immer durch ihre eigenen Augen. Aber ich meine nicht, dass ich eine aussergewöhnliche Person bin. Ich glaube, viele Leute denken so wie ich.
Wie sieht Ihr Alltag aus?
Ich bin eine Frühaufsteherin. Sechs Uhr ist perfekt. Am Morgen ist mein Gehirn superscharf. In den fünfzehn Minuten nach dem Aufwachen kommen mir noch im Bett die besten Ideen. Dann setze ich mich an meinen Computer und arbeite bis etwa elf Uhr. Später dusche ich. Am Nachmittag geht es weiter, aber ich versuche, immer früh am Abend zu essen, damit ich beizeiten schlafen gehen kann. Ich liebe es, zu arbeiten. Wenn ich freie Zeit habe, wird mir langweilig.
Sind Sie glücklich?
Ich bin grundsätzlich ein positiver Mensch. Und meistens glücklich. Meine Ängste und Befürchtungen fliessen in meine traumhaften und surrealen Szenen. Dabei würde ich mich im wirklichen Leben eher als Realistin bezeichnen.
Die letzten Wochen müssen sehr anstrengend gewesen sein. Sie haben nämlich noch eine zweite Soloschau vorbereitet.
«Hard Feelings» in Seoul mit den Galerien Eva Presenhuber und Taxa.
Schon wieder so ein Titel.
Ja (lacht). Die Leute werfen dir die gemeinsten Sachen an den Kopf, und dann sagen sie: Nichts für ungut. Doch natürlich bleibt ein schlechtes Gefühl zurück. Jedenfalls ist der Raum in Seoul viel kleiner als der in Belgien. Darum habe ich dafür auch kleinere Formate gewählt. So konnte ich mich noch mehr auf das einzelne Thema fokussieren. Eines der Werke, die dort gezeigt werden, ist «The Sleeper Slept». Hier wird ein ganz gewöhnliches Wasserglas zum wichtigsten Objekt im Bild. Daneben liegen Schlaftabletten und ein Schlüsselbund, dessen Kette zu einer Figur geformt ist, die zu fliegen scheint. Ich mag diese kleinen Verweise und scheinbaren Zufälligkeiten. In meinem Werk «Tête-à-tête», das ich vor zwei Jahren an der «Unlimited» in Basel zeigen durfte, waren ganz viele eingebaut. Zum Beispiel ein Apfelrest mit dem Profil meines Mannes oder eine Textbotschaft im Zigarettenrauch.
Ich meine, Ihren Mann auch im Sleeper wiederzuerkennen.
Ja und Nein. Er ist oft mein Modell, wenn ich eine bestimmte Situation oder einen bestimmten Winkel zeigen möchte. Dann fotografiere ich ihn, um eine Vorlage zu haben. Aber eigentlich male ich keine lebenden Personen. Ich möchte nicht einmal das Geschlecht abbilden. Meine Figuren sind genderneutral.
Ihr Mann, Adam Cruces, ist auch Künstler. Was bedeutet das für Sie?
Es ist grossartig. Adam ist etwas älter als ich und kannte die Kunstwelt schon, bevor ich anfing. Er hat mir in meiner Karriere viel geholfen. Wenn ich nicht mit ihm zusammen wäre, wäre ich nicht dort, wo ich heute bin. Zum Glück sind unsere Arbeitsweisen sehr unterschiedlich. Unsere Werke sprechen andere Kuratoren an, und wir sind in anderen Ausstellungen vertreten. Es gibt also kein Egoproblem. Wir können unsere schärfsten Kritiker sein, aber wir sind auch immer füreinander da, um uns gegenseitig zu helfen und zu unterstützen.
Ihre Technik ist sehr speziell. Wie entstehen Ihre Bilder?
Ich habe ursprünglich Grafikdesign an der ECAL in Lausanne studiert und danach auch kurz in diesem Beruf gearbeitet. In ihm spielen Bildbearbeitungsprogramme eine grosse Rolle. Die benutze ich bis heute. Ich baue meine Bilder im Photoshop auf und male mit der Maus wie mit einem Pinsel. Vorlagen benutze ich nur zur Ideenfindung. Alles entsteht neu, ich wähle die Farben, schattiere, setze Schatten. Manchmal fragen mich die Leute: «Ist das ein Foto?» Ist es natürlich nicht, aber ich mag dieses Verwirrspiel zwischen real und nicht real. Das Programm ist wie eine Verlängerung meines Gehirns, eine Art Prothese, die mir hilft, Sachen zu machen, für die ich sonst keine Geduld hätte. Ich kann zum Beispiel verschiedene Farbversionen ausprobieren, oder ein Motiv wird immer grösser, und ich teile es in zwei, drei Einzelwerke auf. Je besser ich die Technik beherrsche, umso mehr habe ich das Gefühl, mich selbst auszulöschen.
Und wie kommt das Gemälde dann auf die Leinwand?
Ich benutze keine Leinwand. Ich drucke meine Motive auf Vinyl, ein Material, das in der Aussenwerbung genutzt wird. Danach bearbeite ich sie mit Paintbrush weiter. An manchen Stellen setze ich zudem Highlights mit schimmerndem Nagellack. Man muss das Werk von verschiedenen Seiten betrachten, um alle Details zu entdecken. Für Strombeek habe ich auch mit Spiegelfolie gearbeitet.
Sie drucken aber auch auf Stoff.
Ja, für meine Skulpturen. Sie sind so etwas wie schwebende Bilder, die auf einem Plexiglassockel liegen. Nur dreidimensional. Zum Beispiel eine Art Trompe-l’œil-Matratze mit Nackenrolle, auf die ein BH gemalt ist. Als ob eine ungebetene Person ihre Unterwäsche vergessen hat. In gewisser Weise sind diese Skulpturen eine Erweiterung der Gemälde in den Raum hin-ein. Da ich mich viel mit der häuslichen Umgebung beschäftige, schien mir der Bezug zu Möbeln passend. Übrigens habe ich alles selbst genäht.
Dann haben Sie eine Pause verdient.
Ich komme gerade aus Paris zurück. Nachdem alle Bilder fertig waren, habe ich mir eine Woche Ferien gegönnt. Zusammen mit meinem Mann. Wir haben Freunde getroffen und sind gut essen gegangen. Shoppen war ich kaum, obwohl ich Mode liebe. Dafür habe ich die Museen besucht. Das Musée d’Orsay hat es mir angetan. Ich konnte mich gar nicht sattsehen ander klassischen Malerei und den Impressionisten.
Und jetzt?
Zuerst fliege ich nach Brüssel für die Ausstellungseröffnung in Strombeek. Und ein paar Tage später geht es schon nach Seoul. Wenn ich dann zurück in Zürich bin, steht wieder eine Menge Arbeit an. Im Februar 2025 werde ich eine grosse Einzelausstellung im Masi in Lugano haben. Meine grösste bisher. Dann gibt es auch einen umfassenden Katalog. Dafür muss ich mich gut vorbereiten!