Kolumne

Die kleinsten und die grössten Dinge

Peter Stamm (59) wurde 2018 für «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (2018) mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. «Das Archiv der Gefühle» (2021) ist sein jüngster Roman. In der Kolumne teilt der Schriftsteller seine Gedanken.

Peter Stamm

Eine meiner liebsten Stellen im «Schweizerischen Robinson» von Johann David Wyss, den ich vor einigen Jahren für Kinder neu bearbeitet habe, ist das Schlusswort des Vaters, nachdem die Familie endlich von der einsamen Insel gerettet wird: «Wir gerieten in eine Lage, auf die uns keine Schule vorbereiten konnte. Am meisten geholfen haben uns drei Dinge: Zuversicht und Lebensmut, harte Arbeit und schliesslich die Kenntnisse, die wir uns beim Lesen erworben hatten, ohne immer gleich daran zu denken, wozu sie einmal gut sein würden. Den Kindern, die dieses Buch lesen, möchte ich sagen: Macht die Augen auf und seht euch um in der Welt. Freut euch am Leben und lernt! Wissen ist Macht, Wissen ist Freiheit.»

Dieses Schlusswort des Vaters ist auch das Programm des Buches, das der Berner Pfarrer vor mehr als zweihundert Jahren schrieb, um seinen vier Söhnen auf unterhaltsame Weise alles Mögliche über fremdländische Pflanzen und Tiere beizubringen und über Kulturtechniken vom Pökeln von Fleisch über die Verarbeitung von Flachs und Baumwolle bis hin zum Bau von Hütten und Häusern. Wissen, das sie kaum brauchen würden in ihrem täglichen Leben, aber das ihren Horizont erweiterte, sie zu reicheren und vollständigeren Menschen machte.

Johann David Wyss hätte sich wohl gewundert, wenn er die Angriffe gelesen hätte, die in letzter Zeit vermehrt von rechten Politikern gegen die Geisteswissenschaften gerichtet werden. Diesmal wird mit der Steuergerechtigkeit argumentiert: dass die Studien der Geisteswissenschaften die Gesellschaft viel kosteten, aber die ausgebildeten Leute zu wenig arbeiteten und nicht genug Steuern bezahlten. Ein Argument, mit dem man wohl ungefähr die Hälfte der menschlichen Tätigkeiten für nichtig erklären könnte, zum Beispiel die Landwirtschaft, die Landesverteidigung und den Sport. Aber auf diese Bereiche zielen die Politiker nicht. Denn eigentlich geht es nicht um Steuergerechtigkeit, es geht darum, dass Geisteswissenschaftler unbequem sind, weil sie unsere Welt nicht einfach am Laufen halten, sondern sie analysieren und hinterfragen. Eigentlich wäre das bei all den Herausforderungen, mit denen wir heute konfrontiert sind, nötiger denn je, und es ist durchaus im Interesse der Gesellschaft. Aber es stört gewisse Politiker, die nur an ihren Machterhalt und bis zu den nächsten Wahlen denken.

Eine Ironie liegt darin, dass Technokraten von ähnlichem Geist uns beibringen wollen, dass Computer bald die Hälfte der Werktätigen arbeitslos machen werden, allerdings wohl eher die Techniker und die Naturwissenschaftler als die Philosophen, die Sprach- und Kunstwissenschaftler oder die Ethno- und die Soziologen. Denn während eine künstliche Intelligenz allenfalls irgendwann ein Computerprogramm schreiben, ein Flugzeug konstruieren oder ein Medikament entwickeln kann, wird sie wohl kaum je eine «Sprachwissenschaftliche Analyse von Toiletten- und Hörsaalgraffiti im universitären Kontext» schreiben oder eine Arbeit «Zur Metaphysik der Kunst». Brauchen wir diese Arbeiten? Vermutlich genauso wenig wie das Cern oder das James-Webb-Teleskop, die Milliarden von Franken kosten und die kleinsten und die grössten Dinge erforschen. Man kann damit nicht viel Geld verdienen, und die Resultate haben vermutlich wenig praktischen Nutzen, aber sie sind Ausdruck von den schönsten Eigenschaften des Menschen: seiner Neugierde und seines Wissensdursts, die keine künstliche Intelligenz je simulieren kann.

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