Kolumne

Das Einmalige und das Vielfältige

Peter Stamm (59) wurde 2018 für «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (2018) mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. «Das Archiv der Gefühle» (2021) ist sein jüngster Roman. In der Kolumne teilt der Schriftsteller seine Gedanken.

Peter Stamm

Das «Book of Kells» ist vermutlich das legendärste Buch der Welt. Es enthält unter anderem die vier Evangelien und entstand um das Jahr 800 in Schottland, von Mönchen geschrieben und wunderschön verziert mit rätselhaften und zum Teil humorvollen Illustrationen. 1990 erschien in einem spezialisierten Verlag in Luzern ein aufwendig gemachtes Faksimile des wertvollen Buches in einer Auflage von knapp 1500 Exemplaren. Antiquarisch ist diese Ausgabe noch immer zu kaufen für um die 7000 Franken. Als Student faszinierte sie mich sehr, ich studierte Anglistik und hielt mich mehr in Bibliotheken als in Kneipen auf. Natürlich war das Faksimile für mich unerschwinglich, aber meine Eltern schenkten mir zu Weihnachten ein paar einzelne Blätter, die separat verkauft wurden. Ich weiss noch, wie enttäuscht ich war, als ich sie aus der Mappe nahm. So aufwendig sie gedruckt und so schön die Bilder und Schriften waren, sie hatten absolut keine Aura, keine Ausstrahlung. Vermutlich hätte eine fotografische Reproduktion mehr vom Original vermittelt als diese gefälschten drei Seiten. Jahre später sah ich das Original in der alten Bibliothek des Trinity College Dublin, und auch wenn man dort nur durch ein dickes Panzerglas zwei Seiten des Buches betrachten konnte, spürte ich den Geist des Originals.

Vom Text, den ich gerade schreibe, gibt es kein Original. Ich tippe ihn in einen Laptop, was ich auf dem Bildschirm sehe, ist nur ein wenig Licht, das durch ein Feld von magnetisierten Flüssigkristallen fällt. Der Text geht dann per Mail in die Redaktion, wird dort auf einem anderen Computer in ein Gestaltungsraster eingefügt und geht als File weiter in die Druckerei, wo er zum ersten Mal physisch erscheinen wird. Es wird fünfundachtzigtausend vollkommen identische Versionen dieses Textes geben, die an zigtausend Haushalte verschickt werden. Erst jetzt, im Gebrauch, werden die vielen Exemplare zu Originalen. Nicht wenige werden ungelesen im Altpapier landen, vielleicht wird irgendjemand in den Weissraum seines Exemplars eine Einkaufsliste schreiben oder während eines Telefongesprächs ein paar Figürchen kritzeln. Ein Grossvater wird die Seite herausreissen, um sie seiner Enkelin zu geben, die eine Seminararbeit über das «Book of Kells» schreibt und die sie, nur oberflächlich gelesen, entsorgen wird. Einen Papierflieger wird wohl kaum jemand aus dem Blatt basteln, aber wer weiss. Noch mehr zum Original wird der Text in den Köpfen der Leserinnen und Leser, die mir ein paar Minuten ihrer Zeit schenken, ob sie sich dabei nun langweilen oder sich durch den Text an etwas erinnern, sich etwas vorstellen. Wir könnten doch mal eine Städtereise nach Dublin machen.

Es ist mir nicht oft passiert, dass ich Menschen ohne ihr Wissen beim Lesen meiner Texte ertappte, zwei-, dreimal im Zug ist es mir passiert, dass ich einer Leserin gegenübersass, die in einem meiner Bücher blätterte, und ich hatte dabei immer das Gefühl, indiskret zu sein, wenn ich versuchte, ihre Gedanken und Gefühle zu erraten. Denn was diese unbekannte Frau da las, war nicht nur mein Text, es war genauso sehr ihrer, sie machte ihn beim Lesen nicht zu einem toten Faksimile, sondern zu einem lebendigen Original, das mehr mit ihr zu tun hatte als mit mir.

Als ich vor drei Jahren umzog, schleppte ich Tausende von Büchern vom alten ins neue Haus, nicht einmal die zerfledderten Reclamheftchen sortierte ich aus. Die faksimilierten Seiten des «Book of Kells» aber warf ich ohne Bedauern ins Altpapier.

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