Der multimediale Künstler Julian Charrière verwandelt fremde Terrains in Orte der Reflexion

Engagierte Kunst

In einem ständigen Dialog mit der Umwelt überwinden die Werke von Julian Charrière räumliche Grenzen. In Basel verkörpert eine emblematische Installation diesen Ansatz.

Julian Charrière

Öffnet man Julian Charrières Instagram-Profil, ist das ein bisschen so, als würde man eine Welt betreten, in der Aufnahmen des James-Webb-Teleskops zusammen mit Bildern aus dem «National Geographic» und dem Reisetagebuch eines Ästheten, Aktivisten und Globetrotters in den Krater eines brodelnden Vulkans geworfen wurden. Und dann plötzlich der Höhepunkt, die künstlerische Eruption. Das schöpferische Erzeugnis eines der bedeutendsten Künstler seiner Generation.

Der 1987 in Morges im Kanton Waadt geborene Julian Charrière bereist die Welt weit abseits der ausgetretenen Pfade. Er wagt sich an entlegene Orte, deren Landschaften zum Gegenstand einer derart stereotypen Ästhetik werden, dass sie verstummen wie ein Bildschirmhintergrund. Der Künstler wirbelt dieses bildgewaltige Terrain auf – vom Eis des Nordpols bis zum Bikini-Atoll, von der Spitze des Ätna bis nach Äthiopien, vom Meeresgrund bis zu den Ölfeldern in Kalifornien, von den Gärten Tasmaniens bis zu den Mammutbäumen der Sierra Nevada. Dabei taucht er ein in den Geist und die Geschichte der Orte, um Darstellungen zu schaffen, welche die Selbstgefälligkeit der Klischeebilder ins Wanken bringen und alles auf den Kopf stellen. Mit seiner Arbeit verwandelt Julian Charrière die Reise in ein Abschweifen, das Anderswo in einen Ort der Reflexion. Und das Bild in den Auftakt eines Schreis.

Dieses Mosaik aus Landschaften spiegelt die Vielfalt der Medien wider, die der Künstler bei seiner Arbeit verwendet. Indem er Fotografie, Bildhauerei, Performance und Video kombiniert, ist Julian Charrières Werk auf vielfältige Weise multidimensional. Es steht an der Schnittstelle mehrerer Disziplinen und bezieht so regelmässig Wissenschaftler, Musikerinnen, Ingenieurinnen und Philosophen in seine künstlerische und anthropologische Recherche mit ein.

In seinem künstlerischen Ausdruck ist die Verschmelzung zugleich Mittel, Prinzip und Atem. Julian Charrière hat sich die Lehre des vorsokratischen Philosophen Anaxagoras zu eigen gemacht – derzufolge «alles in allem» sei – und verleiht dieser Weltanschauung eine zeitgenössische Perspektive. Der Philosoph und Metamorphose-Experte Emanuele Coccia verfasste das Vorwort zu Julian Charrières jüngster Veröffentlichung anlässlich seiner Ausstellung «Controlled Burn» in der prächtigen, vom Architekten Tadao Ando ̄ entworfenen Langen Foundation. Darin schreibt er: «Julian Charrières Arbeiten vermitteln die Fähigkeit, in jedem Funken Energie die gesamte subjektive Wahrnehmung der Verbundenheit der Dinge untereinander zu spüren: Eichen und Schmetterlinge, Biber und Quallen, Streptokokken und Menschen.»

Bei einem Telefonat mit dem Künstler während der Biennale in Venedig fügt sich alles zusammen. Die grossen metaphysischen Abstraktionen, die seinen künstlerischen Ansatz leiten und seine Sprache manchmal mit komplexen geophysikalischen Begriffen untermalen, werden auf sehr einfache und zugängliche Weise in seiner nächsten Ausstellung dargestellt: dem Globus Public Art Project, einer Zusammenarbeit zwischen Globus und der Fondation Beyeler, zu sehen in Basel vom 8. Juni bis 6. Oktober. Der Künstler öffnet mitten in der Stadt ein Fenster zu einer der grössten Lungen des Planeten: Mithilfe eines riesigen Bildschirms an der Fassade des sich im Umbau befindlichen Globus-Warenhauses verbindet er einen tropischen Regenwald in den westlichen Anden Ecuadors mit dem Marktplatz in Basel. Dieses immersive Werk ermöglicht es nicht nur, das Biotop des äquatorialen Regenwaldes in Echtzeit zu beobachten, sondern auch, in die Klangwelt dessen Fauna und Flora einzutauchen. Sogar seine eigene Stimme kann man dort erklingen lassen. Das schafft Bewusstsein für unseren direkten, normalerweise unsichtbaren Einfluss auf diesen lebenswichtigen und von der Abholzung stark bedrohten Lebensraum. Die Installation mit dem Titel «Calls for Action» ist in ihrer Einfachheit beispielhaft und sinnbildlich für die Themen, die Julian Charrières Werk durchziehen. Sie liefert uns wichtige Schlüssel zum Verständnis seines künstlerischen Schaffens. Exklusiv für Bolero erläutert der Künstler dessen einzelne Ebenen im Detail.

BOLERO «Calls for Action» versetzt ein städtisches Publikum, das von Terminen getrieben wird und eiligen Schrittes unterwegs ist, mitten in den tropischen Regenwald. Die immersive Installation beleuchtet die Spannungen im Verhältnis von Mensch und Natur, das Sie kontinuierlich erforschen. Inwiefern vertieft die Installation diese Beziehung, die Sie in Ihren Arbeiten immer wieder hinterfragen?

JULIAN CHARRIÈRE Mit «Calls for Action» bringe ich zum ersten Mal einen Ort ganz direkt zu den Menschen. Normalerweise setze ich mich bei meiner Arbeit mit einer Landschaft oder einer Situation auseinander. Die dabei gelebte Erfahrung versuche ich dann in meinem Werk darzustellen und so universeller zu machen. Mit dieser immersiven Ausstellung entführe ich das Publikum in eine andere Welt und verbinde zwei Orte, zwei Ökosysteme miteinander: Basel und den Regenwald. Auf diese Weise schaffe ich ein Portal, eine Beziehung und eine intime Begegnung. 24 Stunden am Tag wird eine von Solarzellen gespeiste Kamera die Bilder ausstrahlen, die uns sagen: Hier und jetzt, in einem Anderswo, pulsiert etwas. Etwas, das zugleich völlig anders und uns dennoch sehr ähnlich ist und uns daran erinnert, dass alles miteinander verbunden ist.

Diese Dimension der Verbundenheit ist für Sie von zentraler Bedeutung, denn sie macht uns bewusst, dass wir einen direkten Einfluss aufeinander haben.

Ja, absolut. Ich habe eine sehr klare Kindheitserinnerung: Es hiess, man müsse die Regenwälder retten. Der Amazonas war in aller Munde. Aber was genau war dieser tropische Regenwald, dieser Amazonas? Wie sah er aus, was geschah dort? Ich hatte keine Ahnung. Dieses Werk ermöglicht uns eine Begegnung mit dem Unbekannten. Wir begeben uns in einen gefährdeten Wald im Herzen der Anden und können ihn durch ein emotionales Objektiv erleben. Ich wollte damit die Verbindung zum Bewusstsein auf eine sehr direkte und einfache Weise an die Oberfläche bringen, sie gleichzeitig aktiv und intim gestalten.

Unsere Lebenswelt ist voller visueller Reize. Das kann zu einer gewissen Passivität führen, die uns unempfänglich macht für die Emotionen, die Bilder hervorrufen können. Inwiefern stellen Sie die Bedeutung von Bildern heute infrage, und mit welchen Mitteln versuchen Sie, eine Form des Widerstands gegen die Gleichgültigkeit zu schaffen?

Die Kunst eröffnet uns verschiedene Perspektiven, um die Welt zu verstehen und Vertrautes neu zu entdecken. So können wir unseren Blickwinkel auf die Welt ändern und um neue Sichtweisen erweitern. Ich habe an Orten gearbeitet, über die viel berichtet wird und die ein breites visuelles Kulturgut mit sich tragen, wie etwa die Eiskappen. Die visuelle Überflutung ist verheerend, denn je mehr Bilder wir von Orten sehen, desto weniger nehmen wir sie wahr. Ich versuche, mit meiner Arbeit alternative Narrative zu schaffen. Gemeinplätze zu zerlegen und durch die Schichten hindurchzuschauen, die uns beim Betrachten das Gefühl vermitteln, ein sehr klares Bild zu haben, die in Wirklichkeit aber Konstrukte sind. Bei «Calls for Action» tritt meine künstlerische Umsetzungsarbeit beinahe in den Hintergrund, um dem ungefilterten Blick des Betrachters Platz zu machen. Dieser Minimalismus im Aufbau macht aus dem Kunstwerk etwas sehr Reines und Unverfälschtes. Es lässt den Betrachter nicht einfach vor Abstraktionen stehen, wie das in Ausstellungen zeitgenössischer Kunst oft der Fall ist. Ein solches Setting kann einschüchternd wirken. Einfachheit ist ein anmutiger Zustand und gleichzeitig das, was am schwierigsten zu erreichen ist. Ich strebe nach einer Form der Reinheit, die umso interessanter ist, je inklusiver sie ist.

Die Dimension des Klangs ist in diesem Werk ebenfalls von entscheidender Bedeutung. Dank den Mikrofonen, welche die Klangwelt des Regenwaldes übertragen, können die Betrachterinnen und Betrachter in diesen hineinhören und in einer Telefonzelle ihre eigene Stimme in den Regenwald projizieren. Dieser akustische Fussabdruck, welcher in Echtzeit übertragen wird, macht unsere direkten Auswirkungen auf das normalerweise unsichtbare oder ausgeblendete Ökosystem deutlich. Ist es das, was Sie spürbar machen wollten?

Die Stimme ist vielleicht das Intimste, was es gibt. Mit einem Ort sprechen zu können, ihm Dinge zuzuflüstern, ihm Geschichten zu erzählen und den seinen zuzuhören – das hat etwas überaus Poetisches, fast Magisches. Das Zuhören ist das Wichtigste. Und wenn es darum geht, sich an einen Ort zu versetzen, um diese Verbindung zwischen dem Hier und dem Dort spürbar zu machen, ist die Stimme ein kraftvolles Instrument, selbst bei sehr niedriger Lautstärke. Die Klänge werden zusammen mit den Bildern abgespielt, nicht im öffentlichen Raum in Basel, sondern auf einer speziellen digitalen Plattform, auf der man den Wald in Echtzeit sehen und hören kann. Es ist eine ambivalente Erfahrung, an einem Ort sprechen zu können, an dem es normalerweise keine menschlichen Stimmen gibt. Bei diesem Werk ist es entscheidend, dass die Verbindung auf beiden Seiten spürbar gemacht wird. Die Menschen können sich so ihrer Spuren als Spezies bewusst werden. Wir sind überall, die ganze Zeit, sogar in unserer Abwesenheit: In jeder Pflanze, jedem Felsen, jedem Winkel des Universums steckt unsere Präsenz. Durch unsere Emissionen und Konsumentscheidungen – ob bewusste oder unbewusste – befinden wir uns mitten im Regenwald.

Sich dessen bewusst zu werden, ist an sich schon eine Möglichkeit, unsere Sichtweise und damit die Art zu verändern, wie wir mit unserer Umwelt interagieren. Das erinnert mich an ein anderes Ihrer Werke mit dem Titel «To Observe Is to Influence». Ein Satz, ganz im Geiste der Quantenphysik. Ein wesentlicher Teil Ihrer Arbeit besteht darin, die Grenzen zwischen dem Menschen und seiner Umwelt zu hinterfragen und zu verdeutlichen, wie sehr sich beide vermischen, beeinflussen und gegenseitig bestimmen ...

Dieser Titel war ein eher kritischer Verweis auf die Art und Weise, wie die westliche Wissenschaft die Beschreibung der Welt vorgibt. Allerdings gibt es gar keine neutrale Beobachtung: Beschreiben an sich bedeutet bereits, einen Standpunkt einzunehmen und somit das, was man beschreibt, zu verändern. In positiver oder negativer Hinsicht befinden wir uns im Zentrum dieser Ambivalenz. Das bezieht sich auf die grossen Abstraktionen, die mein Werk durchziehen, die ich aber auf sehr konkrete Weise sichtbar und spürbar zu machen versuche. Wir sind überall, in allem. Und egal wo wir sind, geht uns unsere Präsenz voraus. Wie können wir also die Welt bewohnen, die uns bewohnt? Als Spezies wollten wir uns aus der Welt herauslösen, obwohl beides nicht voneinander trennbar ist. Auch zwischen Kultur und Natur gibt es keine Trennung. Selbst die Mittel zur Beschreibung dieser Beziehung sind ungeeignet: Wir sollten nicht mehr von Umwelt sprechen, sondern von «Milieu», wie es der Kurator und Kunsthistoriker Nicolas Bourriaud sehr treffend formuliert hat. Mit diesen Fragen setze ich mich täglich auseinander. Und durch meine Arbeit versuche ich, Denkanstösse zu diesen Themen zu geben.

Ihr künstlerisches Schaffen leistet einen wichtigen Beitrag zum Brückenschlag zwischen dem Beobachter und dem Akteur, womöglich sogar dem Aktivisten. Es geht sogar noch einen Schritt weiter. Denn das Projekt «Calls for Action» stellt in Zusammenarbeit mit den NGO Art into Acres, Re:wild und der Jocotoco-Stiftung Finanzmittel zur Erhaltung von Teilen des Regenwaldes bereit und gewährleistet dabei eine lokale, nachhaltige Unterstützung auf ethische Weise. Ihre Arbeiten könnten einen unmittelbaren Einfluss auf die Veränderung der Umwelt haben. Ist das eine natürliche Folge Ihrer künstlerischen Haltung?

Dieses Werk macht den Zuschauer zum Akteur. Einerseits, weil das Wissen, dass das Projekt direkt zum Schutz des Regenwaldes beiträgt, die Wahrnehmung verändert; andererseits bietet es den Menschen auch die Möglichkeit, sich selbst an diesem Umweltschutzprojekt zu beteiligen. Es ist ein langfristiges Projekt. Ziel ist, es an verschiedenen Orten auf der Welt zu verwirklichen. Die Finanzierung ist eine Kombination aus mehreren Faktoren. Ich selbst spende meine Künstlergage und sammle Geld durch den Verkauf einer limitierten Auflage eines meiner Kunstwerke. Dabei werde ich von einer Stiftung unterstützt, die den Spendenbetrag verdoppeln wird. Es ist das erste Mal, dass es mir gelungen ist, diese beiden Dimensionen deutlich miteinander zu verbinden: mein eigenes Engagement und ein Kunstwerk, das als solches seine eigene Legitimität besitzt. Ich glaube, dass ich mit diesem Projekt eine sehr einfache und zugleich lebendige Form gefunden habe, um die Selbstwirksamkeit der Kunst in der Gesellschaft – eine meiner tiefsten Überzeugungen – zu veranschaulichen. Ich versuche, mich politisch zu engagieren. Nicht in belehrender Weise, sondern indem ich Räume zum Nachdenken schaffe.

Ihre Arbeit befasst sich immer mit den Elementen Wasser, Feuer, Gestein und bei diesem Projekt nun mit der prachtvollen Pflanzenwelt. Was stellt diese in Ihren Augen dar?

Die Pflanzenwelt erinnert mich an die Idee der Schöpfung selbst. Sie schafft gewissermassen Realität. Pflanzen sind Pionierinnen. Sie haben das Ökosystem hervorgebracht, in dem sich die Arten immer weiterentwickelt und sich so an die von der Pflanzenwelt geschaffene Umgebung angepasst haben. Der Mensch ist die erste Spezies, die die Arroganz besitzt, die Welt an ihre Bedürfnisse anpassen zu wollen. Und zwar auf eine absolut unvernünftige Weise, die in die Sackgasse geführt hat, in der wir uns heute befinden.

Ist das der Grund, warum der Mensch in Ihren Arbeiten nie direkt angesprochen wird, sondern eher eine Art Abdruck darstellt, der von der Materie und den Landschaften geprägt ist, die im Vordergrund stehen?

Es handelt sich um eine latent wirkende Kraft. In der Abwesenheit manifestiert sich die Präsenz. Ich war schon immer von den Geistern, den Schatten der menschlichen Existenz fasziniert, die im Universum treiben wie ein Stück Plastik im Ozean. Der Mensch ist auf sehr abstrakte Weise überall. Zum Beispiel in Form von Kohlenstoffemissionen: Es ist der Mensch, der den Himmel mineralisiert. Der Mensch fällt wie ein Schatten auf das Universum. Ich möchte seine Präsenz in meiner Arbeit bewusst durch seine Abwesenheit thematisieren, ähnlich wie beim Negativ eines Fotos.

«Calls for Action» ist ein Kunstprojekt im öffentlichen Raum, erwachsen aus einer Zusammenarbeit zwischen dem Warenhaus Globus und der Fondation Beyeler. Diese immersive Ausstellung findet vom 8. Juni bis 6. Oktober 2024 auf dem Marktplatz in Basel statt.

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