Interview mit Walid Raad

Gegen das Denken in Schwarz-Weiss

Walid Raad, der renommierte libanesisch-amerikanische Multimediakünstler, mäandert in seinen Projekten zwischen Realität und Fiktion – zurzeit im Zürcher Kunsthaus.

Walid Raad

Er lässt sich weder fotografieren noch fil- men, und Interviews – auch dieses hier – gibt er lieber schriftlich. Auf dem Fotoporträt, das er zur Verfügung stellt, sieht er aus wie ein Agent der Siebzigerjahre. Oder ein Beiruter Buchhändler. Jedenfalls ähnelt die Figur nicht dem verschwommenen Bild, das von ihm im Netz herumgeistert: von Walid Raad, einem der renommiertesten zeitgenössischen Künstler mit libanesischen Wurzeln und Fotografieprofessor am Bard College sowie an der Cooper Union School of Art in New York.

Raad, im Libanon geboren und aufgewachsen, in Medusa, New York, lebend und arbeitend, möchte sich nicht festnageln lassen. Die Verhältnisse sind zu komplex. Eindimensionalen Darstellungen misstraut er zutiefst. Stellt man eine Frage, bekommt man eine Frage zurück oder eine Interpretation der Frage oder eine Ausweitung der Frage. Manchmal wähnt man sich dann in einem Seminar für Kulturwissenschaften; aber das gehört zu seiner künstlerischen Strategie.

Bekannt wurde der 57-Jährige mit seinem fiktiven Kollektiv The Atlas Group. Seit Ende der 1990er-Jahre trägt er unter diesem Pseudonym Fotos, Prints, Videos und Filme von Ruinen und Automotoren, den Überbleibseln nach Autobomben-Explosionen, zusammen. Fragmente und Geschichten, die mit dem libanesischen Bürgerkrieg zusammenhängen. Das Projekt, immer wieder neu arrangiert, wie sich eben auch Erinnerungen immer wieder neu formieren, zeigt, dass Erinnerungen – kollektive oder individuelle – stets Konstruktionen sind.

Dass das Interesse der westlichen Kunstbubbles an Stimmen aus dem arabischen Raum Anfang der 2000er-Jahre scheinbar plötzlich erwachte, daran hat Raad einen gewichtigen Anteil. Seine fiktive Atlas Group war gefragter Gast an der Documenta in Kassel, den Biennalen in Venedig, Istanbul, São Paulo sowie an der Whitney Biennial in New York. Raad hatte Soloshows im MoMA in New York, im Pariser Louvre, im Reina-Sofia-Museum in Madrid, und seit Mitte August gastiert er mit seinen künstlerischen Interventionen im Kunsthaus Zürich.

Die Obsession, Belege für Vergangenes zu sammeln, Neuinterpretationen zu versuchen und über das Gewesene zu spekulieren, ist biografisch bedingt. Raad wurde 1967 als Sohn einer Palästinenserin und eines Libanesen in Chbanieh geboren. Er wuchs in Beirut, mitten im libanesischen Bürgerkrieg auf, der 1975 ausbrach.

BOLERO Stimmt es, dass Sie als Kind den israelischen Angriff auf Westbeirut fotografiert haben und Patronenhülsen sammelten?

WALID RAAD Ja, und ich war nicht der Einzige. Ostbeirut wurde in den späten 1970er-Jahren mehr oder weniger von seinen nicht christlichen Bewohnern gesäubert. Zu dieser Zeit rekrutierte die Miliz, die den Teil von Beirut kontrollierte, in dem ich lebte, alle sechzehnjährigen Jungen für ihre Kampfmaschine. Ich wollte auf keinen Fall für diese Leute kämpfen. Meine Familie hatte genug Geld und Beziehungen, um mich wegzuschicken. Ich verliess das Land mit einem Boot, einem Frachtschiff.

Sie gingen ganz allein weg?

Ja, ich ging allein. Und ich habe den Namen des Schiffes nie vergessen: «Fiona».

Sechzehn ist ein kritisches Alter, um in einem neuen Land allein von vorne zu beginnen. Kommt man jemals in einem neuen Land, einer anderen Kultur an, wenn man seine Heimat und alles, was man liebt, zurücklassen muss?

Man könnte auch fragen: Kommt man jemals in seinem eigenen Land an? Aber um Ihre Frage zu beantworten: Es kommt darauf an, was man verlässt und wohin man geht. Man verlässt ja nicht immer nur Dinge oder Menschen, die man liebt, sondern auch solche, die man nicht ausstehen kann. Ich verliess den vom Krieg zerrissenen Libanon und ging in den letzten Jahrzehnten des Kalten Krieges in ein von Reagan geführtes Amerika. Beide Länder boten mir spürbare Grenzen und Möglichkeiten. Damals war ich sechzehn und wollte nicht in eine Miliz eintreten. Ich wollte Basketball spielen, Bilder machen, jemanden küssen und von ihm geküsst werden.

In den USA haben Sie sich dann immer wieder mit dem Bürgerkrieg und den Traumata beschäftigt. Beirut ist mit Ihnen gekommen.

Manchmal durchlebt man ein Ereignis zwar, aber man erlebt es nicht richtig. Manchmal drückt sich diese Lücke durch ein Hysteriesymptom aus, das einen dann verfolgt. Es kann Jahrzehnte dauern, bis man die Worte, Formen und Gesten fin- det, um das Ereignis in seiner ganzen Komplexität zu erzählen und den lähmenden Spuk aufzulösen. Dieser Prozess erfordert Arbeit im Studio und ausserhalb, Zeit, Ressourcen und Glück.

Ist Ihre Kunst also eine Form von Traumaarbeit?

Ich bin weder Therapeut noch Psycho- loge. Und ich bin, soweit ich das beurteilen kann, durch mein Leben im Libanon nicht geschwächt worden. Ich arbeite als Künst- ler. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Wenn Sie sich The Atlas Group genau ansehen, finden Sie Kopien von Dokumenten, von denen es keine Originale gibt, wie auch Figuren, die eher in der Fiktion als in der Realität auftauchen. Dies veranlasst mich zu der Frage: Was sind die Gesetze dieses Universums? Was «passiert» dort noch?

In Ihrer Kunst verweisen Sie also darauf, dass das Erinnern, das Wiedergeben von Ereignissen, ein Konstrukt ist, das von Emotionen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bedingungen beeinflusst wird.

Es gibt sicherlich Menschen, die sich glasklar an etwas erinnern oder etwas vollkommen vergessen, aber sie sind rar. Die meisten Menschen bewegen sich auf dem Kontinuum zwischen Erinnern und Vergessen. Das bedeutet für mich, dass wir Konzepte entwickeln müssen (und viele haben sie bereits entwickelt), um ausserhalb der falschen Dualität Erinnern/ Vergessen zu denken. Es gibt viele Bücher, Filme, die dieses Thema behandeln. Ich denke an Jorge Luis Borges’ «Das unerbittliche Gedächtnis» oder Marguerite Duras’ «Hiroshima mon amour». Oder sämtliche achtzehn Bücher des libanesischen Autors und Filmemachers Jalal Toufic.

Ursprünglich wollte Raad Fotojournalist werden. Im Beirut der frühen Siebzigerjahre verschlang er westliche Fotomagazine, machte sich bekannt mit der Fotografie von Henri Cartier-Bresson, Diane Arbus und Helmut Newton, lernte aber auch allmählich, wie medial verbreitete Bilder und Geschichten Parallelwelten entstehen lassen. «Jeder, der schon mit einer Kamera oder mit Fotogrammen gearbeitet hat, ist sich der zahlreichen Bedingungen bewusst, die die entstehenden Bilder prägen», schreibt er. In den USA studiert er am Rochester Institute of Technology Fotografie, Kultur- und Bildwissenschaften und belegt Kurse in Nahoststudien. Er lernt, verschiedene Perspektiven einzunehmen und die Kräfte kritisch zu hinterfragen, die die erzählte Geschichte formen. Und er erkennt, dass das erinnerte Leben irgendwo zwischen Wahrheit und Fiktion siedelt, zwischen der erlebten Realität und den Geschichten, die sich jeder Mensch und jedes Volk von seiner Vergangenheit erzählt. Als Präsentationsform für seine Kunst wählt Raad immer auch den öffentlichen Vortrag, bei dem man nicht sicher ist, wohin einen sein Redefluss, diese Lawine von Fakten und Daten, führt.

BOLERO Aufgrund sozialer Medien, Fake News und Donald Trumps oder Putins alternativen Wahrheiten wissen wir nicht mehr, wann wir getäuscht werden. Die Wahrheit ist umstrittener denn je. Gibt es sie überhaupt?

WALID RAAD Ich mag diese Frage nicht. Ich werde versuchen, zu erklären, warum: Ich bin sicher, dass die meisten Zeitungen und Zeitschriften sich an bestimmte Kriterien halten, um zu bestimmen, was «journalistische Wahrheit» ist. Rechtsgelehrte ha- ben andere Kriterien, um «juristische Wahrheiten» zu bestimmen. Historiker haben andere Kriterien für die «historische Wahrheit». Wissenschaftler haben wiederum andere Kriterien für die «wissenschaftliche Wahrheit». Psychologen haben unterschiedliche Auffassungen von «psychologischer und emotionaler Wahrheit». Religiöse Persönlichkeiten haben andere Kriterien für die «spirituelle Wahrheit». Philosophen haben wiederum andere Vorstellungen von «philosophischer Wahrheit». Und so weiter. Wovon reden wir hier eigentlich? Ich habe Hochachtung vor jenen Künstlern, Schriftstellern, Wissenschaftlern, Spiritualisten und vielen anderen, die Konzepte, Formen und Gesten geschaffen haben, um dem, was unsere Aufmerksamkeit fesselt, einen «Sinn» zu geben. Trump und Putin und viele andere hingegen verschieben die Torpfosten einfach immer wieder. Wenn sich ihre «historische Wahrheit» als falsch erweist, sagen sie, sie hätten im- mer die «juristische Wahrheit» gemeint. Wenn sie in einem Gerichtssaal für schuldig befunden werden, gehen sie zur «politischen Wahrheit» über. Und wenn sich ihre «politische Wahrheit» als eigennützig erweist, gehen sie zur «emotionalen Wahrheit» über, verlangen aber immer noch, nach den scheinbar nüchternen Kriterien der historischen und wissenschaftlichen Wahrheit beurteilt zu werden. Jeder, dessen einzige Einstellung zur historischen Wahrheit sich darum dreht: «Was ich behaupte, ist wahr. Was alle anderen beweisen, ist falsch», ist ein Demagoge. Das gilt für Trump genauso wie für die New York Times und CNN, wenn sie sich in Slogans wie «Truth Matters» hüllen. Es herrscht ein gewaltiger Unterschied zwischen dem absoluten Wahrheitsanspruch gewisser Politiker und der Art und Weise, wie Künstler, Schriftsteller, Denker sich mit diesen Themen auseinandersetzen.

Erklären heisst manchmal vereinfachen. Warum legen Sie so viel Wert darauf, die Dinge noch komplexer darzustellen, als sie ohnehin schon sind?

Warum sollte man eine Mahlzeit würzen? Warum den Walen zuhören? Warum mit Pflanzen sprechen? Warum herzlich und einfühlsam sein? Warum eine Wand streichen? Warum spezielle Relativitätstheorie, newtonsche Physik und Quantenmechanik? Warum Spiele? Warum Martha Graham und George Balanchine? Warum Fussfetisch und Zoophilie? Ich könnte so weitermachen, aber Sie verstehen, was ich meine.

Walid Raad gefällt es, seine Zuhörer oder Leser mit seinen Antworten in ein Netz von Bezügen zu weben. Ähnlich verfährt er in seinem neuesten Projekt mit dem Titel «Cotton under My Feet», mit dem er seit 2021 durch europäische Museen tourt. Nach dem Nationalmuseum Thyssen-Bornemisza Madrid und der Hamburger Kunsthalle ist das Zürcher Kunsthaus die dritte Station: Es wird eine kuratierte Reise durch das Kunsthaus sein, auf der Raad sein Publikum durch eine Myriade künstlerischer Begegnungen führt und alte Meister und Impressionisten mit eigenen Kreationen konfrontiert. In Performances wird er auch die Hintergründe, die sich um Kunstwerke und die Entstehung der gesamten Sammlung ranken, beleuchten.

BOLERO In der Impressionisten-Sammlung des Rüstungsindustriellen Emil Bührle, zu der auch eine Vielzahl von Werken von jüdischen Opfern des Nazi-Regimes gehört, gibt es interessantes Material für Sie. Werden Sie diese konfliktträchtige Tatsache ansprechen?

WALID RAAD Sehr tangential. Das Museum und ex- terne Forscher haben bereits so viel Arbeit dazu geleistet, und ihre Forschung ist ja weiterhin im Gange. Ich bin sicher, dass noch viel zu sagen und zu entdecken bleibt. Aber abgesehen von den herzzerreissenden Geschichten, die von den Forschern ans Licht gebracht wurden, habe ich das Gefühl, dass die Bührle-Sammlung auch zahlreiche «schwarze Löcher» enthält, viele Kaninchenlöcher, die zu noch erschreckenderen (oder – auf das Risiko eines Missver- ständnisses – berauschenderen) Erkenntnissen führen können als das, was bereits aufgedeckt wurde.

Wie werden Sie die Sammlung des Kunsthauses denn sonst in Ihre Geschichten einweben?

Zum Beispiel mit Christian Schads Wandreliefs. Er hat sie während eines kurzen Aufenthalts in Zürich im frühen 20. Jahrhundert geschaffen, dann in Genf ausgestellt, und danach sah er sie 45 Jahre lang nicht wieder. Eine andere Geschichte dreht sich um einen der Thyssen-Bornemisza-Nachkommen, der in Zürich arbeitete und stark in die Erhebung von Wetterdaten investierte. Und um Frank Buchser, den Schweizer Künstler, der im 19. Jahrhundert in die USA reiste und zwei amerikanische Bürgerkriegsgeneräle malte.

Sie erwähnen wieder einen Bürgerkrieg ... Sie hätten Ihre Arbeit auch in den Dienst der Konflikt- und Friedensforschung oder der Politik stellen können. Warum Kunst?

Ich fühle mich nicht zu Friedensfor- schung oder Politik hingezogen. Ich habe weder das Temperament noch das Talent für diese Gebiete. Kunst bleibt für mich eine Möglichkeit, «Signale» aus anderen Bereichen zu empfangen.

Wie gehen Sie damit um, dass Ihre Kunst, die sich mit den dunkelsten Seiten der Geschichte beschäftigt, zum Beispiel in einem New Yorker Penthouse in einem völlig anderen Kontext hängt?

Ich gehe nicht davon aus, dass Araber oder Libanesen ein besseres «Verständnis» für meine Arbeit haben als Amerikaner, Argentinier, Malaysier oder Schweizer. Ich lebe ja auch mit den Werken anderer, nicht libanesischer oder amerikanischer Künstler in meiner eigenen Wohnung, und ich bezweifle, dass meine Beziehung zu den Werken den Intentionen des Künstlers entspricht. Meistens versuche ich, mich in den «Ort» zu versetzen, den mir das Kunstwerk eröffnet. Ich versuche damit, meinen inneren Monolog zu unterbrechen.

Sie forschten immer wieder zur visuellen Dokumentation von Gewalt. Mit dem Israel-Gaza-Krieg werden wir wieder mit Bildern von Gewalt überflutet. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie sie sehen?

Damit ich nicht missverstanden werde, erforderte meine Antwort mehr als die vier oder fünf Seiten, die Sie für diesen Artikel haben. Lassen Sie es mich so sagen: Eine Besetzung ist eine Besetzung, die eine Besetzung bleibt und weiterhin eine Besetzung ist, die eine Besetzung ist und eine Besetzung bleibt, die eine Besetzung ist und bleibt. Wenn Bolero willig wäre, könnten wir so Seiten um Seiten weitermachen: Eine Besetzung ist eine Besetzung, die eine Besetzung ist, und so weiter. Aber ich bezweifle, dass diese Geste ihr Publikum wirklich bewegen würde.

Walid Raad, Kunsthaus Zürich, 16. August bis 3. November, in Kooperation mit dem Zürcher Theaterspektakel. Im August, September und Oktober sind mehrere Walkthroughs mit dem Künstler geplant. Mehr dazu auf kunsthaus.ch.

So, 13. Oktober, 12 Uhr: Artist Talk mit Walid Raad.

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