Gibt es eine Erfahrung, in der Sie dies besonders intensiv gespürt haben?
Ja, als ich in Mexiko während eines künstlerischen Aufenthalts in der Casa Wabi in der Nähe von Oaxaca war, fühlte ich mich plötzlich sehr verbunden mit diesem Ort. Ein Taxifahrer nahm mich mit in sein Dorf. Dort kochte ich mit den Einheimischen am Feuer. Und ich ritt mit einem Gaucho durch die Landschaft. Obwohl ich noch nie an diesem Ort gewesen war und trotz der kulturellen und sprachlichen Unterschiede fühlte ich mich zu Hause.
Knecht arbeitete vor ihrer Kunstkarriere während zwanzig Jahren als Sozialpädagogin mit Teenagern von Migrantenfamilien und Drogenprostituierten in der Stadt. Auch von ihnen lernte sie, was Heimat – oder ihr Verlust – und was Geborgenheit bedeutet. Mit 43 Jahren, 2011, begann sie ihr neues Leben. Schon ihr Studium an der Zürcher Hochschule der Künste nutzte sie, um den Begriff der Heimat zu erkunden – oder vielmehr: das Eigene zu erforschen. Um Geld zu verdienen, begann sie, zu kochen: Sie liess dafür eine alte Scheune, die sie für einen Franken erstanden hatte, vom Jura in den Rheinhafen von Basel transportieren. Im «Chnächt» kochte sie einmal im Monat Gerichte nach ureigener Sandra-Façon. In einer Fisch-Curry-Suppe schwammen Fischköpfe. Dem Schmorbraten wurde Erde beigefügt. Jeder Abend war einem Tier gewidmet, einer Pflanze oder einer Zubereitungsart.
BOLERO Ihr Kochen wurde zur Auseinandersetzung mit unserem Verhältnis zu Tieren und der Natur. Damit kam sie auf den Radar von lokalen und internationalen Kuratorinnen und Kuratoren wie Samuel Leuenberger und Koyo Kouoh. Bald folgten Einladungen an die Biennale Venedig, ins Kunsthaus Zürich, ins Kunsthaus Baselland, in die Fundació Joan Miró in Barcelona und in die Serpentine Gallery in London. Was nahmen Sie aus Ihrer Zeit als Sozialpädagogin mit?
SANDRA KNECHT Ich habe eine grosse Liebe zum Balkan entwickelt und zum Essen aus dieser Gegend. Sie wurde zu meiner Heimat, ohne dass ich dieses Gebiet je bereist habe, weil ich mit den Müttern gekocht habe. Ich habe mit ihnen gegessen und ihre Musik gehört. Viele dieser geflüchteten Familien kamen vom Land, das hat uns verbunden. Landmenschen erkennen sich auf der ganzen Welt.
Zum Beispiel daran, dass man sich auf der Strasse grüsst. Das kommt einem in der Stadt nicht in den Sinn.
Vor Ihrem Kunststudium haben Sie Regie studiert. Was hat Sie daran fasziniert?
Mein künstlerisches Leben hat sich über Jahre hinweg angebahnt. Wichtig war die Begegnung mit der Autorin Johanna Lier. Wir brachten zusammen ein Stück über Traumata von Kriegsflüchtlingen auf die Bühne. Das hat mir völlig neue Welten eröffnet. Von da an spürte ich ein starkes Bedürfnis, mich mit der Welt auf eine neue Weise auseinanderzusetzen. Mit der Theaterarbeit öffnete sich der Weg ins Unbewusste – zu den Geschichten und Bildern, die dort verborgen sind. Es ist schwer zu beschreiben, aber plötzlich tat sich ein Tor zu meinem Inneren auf.
Trotzdem haben Sie die Kunst und nicht das Theater gewählt.
Theaterarbeit bedeutet, dass du Teil eines Menschenrudels bist. Ich habe festgestellt, dass ich Angst habe vor Menschenrudeln. Das hat mit meiner Arbeit mit Geflüchteten zu tun und mit der Zeit, als ich bei einer Anlaufstelle für Drogenprostituierte arbeitete. Das waren extreme Kontexte, die immer mit grossen Menschengruppen verbunden waren. Im kreativen Prozess ist man sehr durchlässig. Du musst offen sein, was dich aber gleichzeitig verletzlich macht. Die Arbeit als Sozialpädagogin dagegen ist Handwerk. Du ziehst eine Rüstung an und funktionierst. Ich merkte, dass ich beim kreativen Schaffen für mich allein sein muss, um in die tieferen Schichten vorzudringen. Deshalb liebe ich es sehr, alleine zu sein mit meinen Tieren, in meinem Atelier, Musik zu hören und einfach für mich zu sein.
Ihre Kochhappenings im «Chnächt» machten Sie in der Kunstwelt bekannt. Worum ging es Ihnen dabei?
Für mich war das «Chnächt» immer mehr als nur ein Restaurant. Es war eine Hommage an die Traditionen der Bauern, an das Land und unsere Ressourcen. Es ging mir auch darum, Respekt gegenüber Tieren zu zeigen. Die Philosophie, auf der das «Chnächt» basierte, hatte aber zunächst sehr praktische Wurzeln. Ich hatte kein grosses Budget und keine Galerie im Rücken. Das Einzige, was ich hatte, war mich selbst und das, was ich konnte. Und ich konnte kochen. Eine ganze Kuh zu kaufen, kostete rund 1800 Franken und ergab etwa 200 Kilo Fleisch. So entstand die Idee, «from nose to tail» zu kochen, also das ganze Tier zu verwerten. Meine Verbindung zu dieser Philosophie stammt aus meiner Zeit auf dem Land. Ich war zehn Jahre mit einer Landwirtin zusammen und habe auf einem Hof gelebt. Das Leben auf dem Land, der Umgang der Bauern mit Traditionen, das ist meine DNA. Ich habe bei alten Bäuerinnen kochen gelernt. Sie waren Meisterinnen des Schmorfleischs, weil die Tiere oft alt geschlachtet wurden und das Fleisch zäh war. Ich finde es ja amüsant, dass es Köche gibt, die Kalbfleisch für Sauerbraten verwenden. Das widerspricht vollkommen dem Ursprung der Idee.
Sie leben mit vielen Tieren, die auch eine grosse Rolle in Ihrer Kunst spielen. Warum sind Sie so gern mit ihnen zusammen?
Ich war schon immer gern mit Tieren zusammen. Mit ihnen zu leben, bedeutet, sich auf die eigenen Instinkte zu berufen. Ich dressiere meine Tiere nicht. Sie kennen nur die notwendigsten Kommandos, damit sie zum Beispiel nicht auf die Strasse rennen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir den Tieren viel ähnlicher sind, als wir es wahrhaben wollen.
Instinkte halten uns doch alle am Leben. Schauen Sie sich nur mal einen Trump an! Es gibt Politiker, die benehmen sich zurzeit wie unsere Schafböcke. Die schlegeln sich auch die ganze Zeit.
Tiere spielen auch eine Hauptrolle in Ihren Fotografien.
Ja, denn in meiner Arbeit geht es mir auch um die Verbindung zwischen Mensch und Tier. Mein allererstes Selbstporträt zeigt mich mit 25, ein Huhn auf dem Schoss, und im Hintergrund schaut ein junger Hund hervor. Offenbar hatte ich schon damals das tiefe Bedürfnis, diese Momente einzufangen. Die Bilder sind ein Beispiel für diese enge Beziehung. Tiere helfen mir, eine andere Perspektive auf die Welt zu entwickeln.
Sie besitzen ein riesiges Archiv von Fotografien, die Sie aufgenommen haben. Geht es Ihnen um Erinnerung oder vielmehr um die Schaffung neuer Bildwelten?
Früher war das Fotografieren vor allem ein Weg, um meine Eindrücke festzuhalten. Die Fotografie von Nan Goldin hat mich früh fasziniert. Goldin hat diese Gabe, die intimsten Momente einzufangen. Als Betrachterin fühlt man sich, als wäre man selbst dabei. Ich habe den Eindruck, dass unser Blick auf die Welt ähnlich ist – auch wenn ich Tiere und Landschaften fotografiert habe und sie die urbanen Subkulturen. Ich habe zwar auch Party gemacht und jahrelang als DJ aufgelegt, aber damals hatte ich noch keine Kamera.
Aber Fotografie genügt Ihnen nicht. Sie zeigen auch Tierskelette und Pflanzen in Einmachgläsern. Reichen Ihnen Bilder nicht, oder trauen Sie ihnen nicht?
Ich bin eine Sammlerin. Schon als Kind habe ich Skelette und Tierschädel gesammelt. Ich arbeite mit diesem Archiv. Dadurch kann ich mich in die Welt einordnen. Ich will sie haptisch und über alle anderen Sinne erfahren.
Was fasziniert Sie an Tierskeletten und Mumien?
Das Werden und Vergehen ist für mich etwas Grundlegendes und Gleichwertiges. Es macht keinen Unterschied, ob ein Mensch stirbt oder ein Tier – der Vorgang des Sterbens ist derselbe. Der physische Prozess, aus dem Leben herauszutreten, ist für alle gleich.
Ihr Leben auf dem Land ist von Tieren getaktet. Wie gehen Sie mit der zunehmenden Mobilität um, die mit dem Kunsterfolg kommt?
Ich habe tatsächlich erst durch die Kunstwelt das Reisen entdeckt, was ich als grosse Bereicherung empfinde. Ich begegne gern Menschen aus anderen Kulturen. Aber das Reisen ist nun mit enormem Organisationsaufwand verbunden. Dabei bin ich eigentlich ein sesshafter Mensch. Ich weiss noch nicht genau, wie sich das alles weiterentwickeln wird.
Was würden Sie jemandem raten, der sein Leben so umkrempeln will, wie Sie es in der Mitte Ihres Lebens getan haben?
Ich glaube, es ist ein bisschen dem Älterwerden geschuldet, dass man nochmals über sein Leben nachdenkt und vielleicht noch ein letztes Mal beruflich etwas Neues, Aufregendes ausprobieren will. Es ist für mich ein grosses Privileg, überhaupt so leben zu können, wie ich das jetzt tue, wofür ich sehr dankbar bin. Der Preis jedoch ist hoch. Handwerk, Disziplin und unbedingter Wille sind Voraussetzung. Der Glaube an sich selbst und den Weg, den man geht, gehört dazu. Aber auch das Wissen, dass es jederzeit wieder anders sein kann, begleitet mich ständig.
Gibt es ein Kunstprojekt, das Sie bisher nicht realisieren konnten, weil es zu aufwendig ist?
Ja, einige! Ich würde beispielsweise gern eine Ausstellung für Tiere machen. Mir schwebt ein Hindernislauf für Geissen vor, bei denen die Geissen über uns Menschen laufen könnten. Die Besucher würden mit ihren eigenen Haustieren in die Freiluftausstellung kommen.
Sandra Knecht, «Home Is a Foreign Place», Kulturstiftung Basel H. Geiger (KBH.G), bis 27. April.