«Typografie ist wie Körpersprache. Jede Schrift hat ihre ganz eigene Persönlichkeit.» – Nora Turato, Künstlerin
BOLERO: Sie performen, und Sie machen Kunst in Form von Lichtboxen, Panels und Wandmalereien. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Worum geht es Ihnen im Kern?
NORA TURATO: Im Grunde geht es mir bei allem, was ich tue, um Kommunikation. Ich untersuche das kollektive Unterbewusstsein. Gerade weil ich keine ausgebildete Künstlerin oder Schauspielerin bin, kann ich Dinge aus der Realität in die Kunstwelt übertragen. Für mich ist Typografie wie eine Stimme. Sie kann schreien, rufen, flüstern. Sie kann einem Satz eine ganz neue Bedeutung verleihen. Typografie ist wie Körpersprache. Jede Schrift hat ihre ganz eigene Persönlichkeit.
Sie kommen ursprünglich aus dem Grafikdesign, arbeiteten auch in der Werbung. Wie haben Sie zur Kunst gefunden?
Ich hatte nicht die Absicht, Künstlerin zu werden. Das geschah eher zufällig. Als ich meinen Bachelor in Typografie machte, schlug mir eine Professorin vor, ich solle meine Schlussarbeit doch vortragen. Es war meine erste Performance. Ehrlich gesagt, mache ich heute nur das, was ich immer schon gern gemacht habe. Früher, wenn ich mit meinen Eltern im Auto irgendwohin gefahren bin, spielte ich jeweils Radio. Performen ist etwas, das ich schon immer instinktiv getan habe. Jetzt tue ich es einfach öffentlich. Ich finde die Stimme etwas Faszinierendes. Man kann anhand der Stimme so viel über eine Person sagen. Wenn ich laut spreche, energetisiert es mich. Indem man seine Stimme verändert, verändert man sich selbst. Wenn man etwa bestimmte poststrukturelle französische Philosophen laut vorliest, tut sich etwas in einem, man schafft eine andere Energie um sich herum.
Sie hätten auch Radiomoderatorin oder Schauspielerin werden können.
Dafür war ich nicht gut genug. Ich war nie in der Position, in der ich mich bewusst für etwas entschieden habe. Mein Weg entwickelte sich zufällig – Grafikdesign zu studieren, Kunst zu machen, zu performen. Für mich selbst ist es ja sogar seltsam, dass ich Künstlerin geworden bin. Ich finde aber, es hat etwas für sich, Dinge aus dem realen Leben, etwa aus dem Grafikdesign, in die Kunstwelt zu übertragen.
1991 in Zagreb geboren, tourte Nora Turato mit fünfzehn mit einer Punkband durch Ex-Jugoslawien. Danach ging sie nach Amsterdam, studierte an der Gerrit Rietveld Academie Grafikdesign und am Werkplaats in Arnhem Typografie. Ihren ersten Job hatte sie in einem Studio für Grafikdesign, wo sie Ausstellungskataloge und Plakate gestaltete. Für ihren zweiten Job, ihren «money job», arbeitete sie in einer Werbeagentur. Da schlug sie sich mit Kundenwünschen und Powerpoint-Präsentationen herum. Und damit, dass von einer tollen Projektidee zum Schluss nur wenig übrig blieb. «Ich realisierte, dass es nicht meinem Wesen entsprach, Dienstleistungen für Kunden zu erbringen. Ich wollte aber das Grafikdesign nicht komplett fallen lassen. Also musste ich meine eigene Klientin werden.» In gewisser Weise wurde sie das tatsächlich. Ihr Briefing an sich selbst könnte etwa so lauten: Kompiliere Sätze und Gedanken, die die Rädchen der westlichen Konsum- und Informationsmaschinerie am Laufen halten, und bringe sie in Umlauf – neu geordnet, gesprochen, geschrieben, gedruckt, designt, gemalt.
«Es gab einen Punkt, an dem ich mich fragte, ob ich ohne Internet noch leben kann.» – Nora Turato, Künstlerin
Seit bald sieben Jahren wird Turato mit ihren Arbeiten in Ausstellungsinstitute und Galerien eingeladen. Das Migros Museum für Gegenwartskunst und das Kunsthaus Zürich haben Werke angekauft. An Kunstmessen ist sie prominent vertreten. Während der letztjährigen Frieze in London etwa hat sie den langen Korridor, der ins grosse Kunstzelt im Regent’s Park führt, links und rechts mit Leuchtkästen bestückt, als wäre es der Transitraum eines Flughafens. Anstatt Werbung diskreter Banken und teurer Uhren waren nur eiförmige Figuren mit grossen farbigen Lettern auf farbigem Grund zu sehen. «A limited supply of nothing» stand da, oder: «Do they know who you think you are?», oder: «Fight the system, cerebral, visually striking, offbeat». Die Sätze, in aufmerksamheischender Typografie gesetzt, führten in eine Endlosschlaufe aus höherem Blödsinn und wirkten auch hier irgendwie seltsam vertraut.
Was hat Ihr Interesse für das Sammeln von Sätzen geweckt?
Als ich noch Musik machte, bereitete es mir immer Mühe, eigene Songtexte zu schreiben. Die Idee, mich selbst auszudrücken, war mir irgendwie fremd, und ich fand das auch nicht wirklich interessant. Deshalb begann ich, Bücher aus dem Regal zu nehmen und Sätze herauszuschreiben, die mir bemerkenswert erschienen. Ich führte Buch darüber, was ich an spannendem Textmaterial fand, und schrieb damit Lieder. Schliesslich empfand ich die Musik aber als eine Sackgasse. Ich konnte nichts wirklich Neues beisteuern, ich war weder virtuos noch technologisch avanciert genug. Es wurde langweilig. Also liess ich es dabei bleiben, sammelte aber weiterhin Texte und habe damit begonnen, sie zu performen.
Ihr Material stammt oft aus dem Internet und den sozialen Medien. Wie zufällig, wie wichtig ist der Inhalt?
Es steckt schon eine Absicht da- hinter, was ich auswähle. Ich beginne jeweils mit rohen Ideen, welche Themen ich anschauen möchte. Zum Bei- spiel, wie sehr die Frage der Identität mit Konsum verbunden ist. Heute musst du etwas Bestimmtes kaufen, um etwas Bestimmtes darzustellen. Dabei gibt es auch die Körpersprache, Atemmuster oder Posturen, die man dazu benutzen kann, seine Identität zu transformieren.
Haben Sie sich inzwischen wirklich ganz aus dem Internet zurückgezogen?
Ich geh da nur noch ganz spärlich rein. Ich mag es lieber, wenn die Informationen physisch zu mir kommen. Es begann schon mit dem Ukraine-Krieg. Die Bilder sahen einfach zu ähnlich aus wie die Bilder aus dem Ex-Jugoslawien-Krieg, zeigten die gleiche sozialistische Architektur. Das war ein Déjà-vu für mich, es wurde mir einfach zu viel. Heute ist man ja quasi moralisch dazu verpflichtet, ständig die News zu checken. Wie sind wir überhaupt an diesen Punkt gekommen? Bei mir führte es so weit, dass der Newsstrom buchstäblich mein Leben übernommen hat. Ich realisierte, dass ich nichts mehr wusste, was nicht aus dem Internet kam.
In Ihrer letzten Arbeit haben Sie genau das thematisiert.
Genau. Die Verrücktheit, wie sehr wir alle dieser immensen Kommunikationsflut ausgesetzt sind. Wie wir alle dasselbe denken. Es gab einen Punkt, an dem ich mich ernsthaft fragte, wie man überhaupt noch ohne das Internet leben kann. Aber eigentlich liest du nur Bits und Bytes. Dein Hirn arbeitet plötzlich nur noch auf eine bestimmte Weise. Ich wundere mich nicht, dass die Aufmerksamkeitsstörung ADHS heute so weit verbreitet ist. Unsere Gehirne haben fast keine Selbstkontrolle mehr. Wir gehen einfach von einem Click zum nächsten. Das ist schon sehr beunruhigend. Das Gefühl für Kontrolle ist doch eigentlich eine besondere Errungenschaft der Menschheit. Wenn wir unser Hirn nicht aktiv halten, verlieren wir diese Fähigkeit. Und dann kann man sich vermutlich ein neu entwickeltes Gerät von Apple kaufen, das einen daran erinnert, nicht zu klicken ... Es beschäftigt mich wirklich, ob ich diesem Automatismus widerstehen kann.
Am Anfang war es hart, davon loszukommen. Man muss das Hirn wirklich loskoppeln. Aber ich tue es, ich halte durch. Und ehrlich, es ist überraschend, wie gut man ohne Internet zurecht- kommt! Ausserdem mag ich es, wenn mich eine neue Arbeit plötzlich in eine entgegen- gesetzte Richtung treibt. «Pool 5» handelte vom Internet. «Pool 6» wird mehr aus Texten gefüttert, die physisch in mein Leben gefallen sind. Etwa in der Form eines Buches.
«Wir sind alle eine Akkumulation von Geschichten und Einflüssen.» – Nora Turato, Künstlerin
Es kommt einem vor, als bedienten Sie sich der Methode des «stream of consciousness», des Bewusstseinsstroms – einer Erzähltechnik, die Marcel Proust, James Joyce, Virginia Woolf angewendet hatten. Dadakünstler brachten das Chaos der Welt in die Kunst. Sind das Vorbilder für Sie?
Ich orientiere mich weniger innerhalb der Kunstwelt. Ich finde sie ziemlich selbstreferenziell. Mich inspirieren Bücher, Filme, Musik mehr. Zum Beispiel Keith Jarrett. Er arbeitet mit dem Flow, er lässt sich leiten. Ich versuche auch, in diesen Zustand des Flows zu kommen, er ist wirklich magisch. Wenn du ihn erreicht hast, denkst du mit dem Körper. Und keine App kann dir dabei helfen, ihn zu erreichen. Er muss aus deinem Inneren kommen.
Was bringt Sie denn in den Flow?
Haben Sie deshalb mit einem Stimmcoach aus Hollywood gearbeitet? Um noch mehr im Flow zu sein?
Ja, das eröffnet mir ganz neue Möglichkeiten. Mit meiner Stimme in andere Menschen hineinzuschlüpfen, finde ich wirklich interessant. Ich beschäftige mich gerade damit, wie Performer performen. Zum Beispiel, wie ein Clown über seine Kunst denkt. Und wie ein Clown auf die Kunst anderer Clowns schaut.
Das hört sich ziemlich meta an.
Ich weiss, heute ist alles irgendwie meta. Das ist nervig, und ich muss aufpassen, dass ich da nicht auch hineinrutsche. Kulturell leben wir in einer sehr speziellen Zeit. Fiktion ist heute vor allem Autofiktion. Alles verweist auf sich selbst. Es gibt fast keine Geschichten mehr. In «The Unbearable Weight of Massive Talent» spielt Nicolas Cage Nicolas Cage. Jennifer Lopez spielt in «Halftime» Jennifer Lopez. Der Film «Matrix» verweist auch auf sich selbst. Ist das nicht seltsam? Heute will jeder die «wahre» Geschichte von etwas. Und es geht überall darum, das «wahre Ich» zu sein. In einer Gesellschaft zu leben, in der von allen ständig verlangt wird, sich selbst zu sein, ist doch irgendwie schräg. Niemand ist wirklich sich selbst! Wir sind alle eine Akkumulation von Geschichten und Einflüssen. Die Idee des Selbst ist Bullshit. Wir leben in seltsamen Zeiten ...