Blütezeit

Die Nüesch–Sisters sind die spannendsten Jungregisseurinnen unserer Zeit. Die St. Galler Schwestern über Symbiose, Selbstbewusstsein und die Suche nach der kompletten Freiheit.

Nuesch-Schwesterm

Schwestern sind wie zwei verschiedene Blumen aus demselben Garten, besagt ein Sprichwort. Ihre Blätter mögen unterschiedlich satt gefärbt sein, die eine robuster, die andere fragiler. Doch sie spriessen aus demselben Boden, werden mit demselben Wasser genährt und schauen zur selben Sonne.

Der «Ur-Garten» von Florine (30) und Kim (28) Nüesch ist St. Gallen. Ihre Wurzeln liegen in einem Haus in der Ostschweiz, in dem von der grossen Welt gesprochen wird. Die Mutter, eine Malerin, und der Vater, ein Architekt, vermitteln Kreativität, Selbstbewusstsein, Unterhaltungkunst und Leidenschaft – alles in so grossen Portionen, dass die Töchter zu den aktuell gefragtesten Jungregisseurinnen der Schweiz heranwachsen. Den Erfolg auf dieses Land zu reduzieren, würde den Nüesch-Sisters aber nicht gerecht werden: Ihr bisheriges Werk entstand hauptsächlich in Amerika, wo beide am Art Center College of Design in Los Angeles studierten. Einer ihrer ersten Erfolge in der Industrie, «Moon Girls», ist ein hoch ästhetischer Modefilm, der auf Starfotograf Nick Knights Digital-Plattform «Showstudio» Premiere feierte. Mit «Forget Me Not», dem autobiografischen Kurzfilm, der Einblick in das Leben zweier Schwestern und ihrer bipolaren Mutter zeigt, gewannen die Nüesch-Sisters 2018 Silber am Young Director Award in Cannes. Diese Preisverleihung war es, die auch die «Vogue Italia» auf das Duo aufmerksam machte. Anfang 2021 beauftragte diese die Schwestern mit dem Minifilm «Through the Storm», in dem sie das Thema Isolation selbst und mit anschaulichem Cast verarbeiteten.

Was die Nüesch-Sisters, die heute zwischen Los Angeles, Europa und St. Gallen pendeln, einzigartig macht, ist ihr Talent, Auge und Geist gleichermassen zu stimulieren. Sie sind sensible Geschichtenerzählerinnen mit einem hierzulande unvergleichlichen Sinn für Ästhetik. Und ihre Ambition, es ganz weit zu schaffen, ist riesig. Wie hoch diese Blumen noch wachsen werden? So viel ist klar: Ihre Blütezeit hat gerade erst begonnen.

BOLERO: Florine und Kim, wie darf man sich Ihre Schwesterndynamik im Kindesalter vorstellen?

FLORINE: Wir haben nur eineinhalb Jahre Altersunterschied, sind fast wie Zwillinge aufgewachsen. Unsere Mutter hat uns auch immer gleich angezogen.

KIM: Entweder trugen wir dieselben Outfits oder die gleichen Kleider in verschiedenen Farben. Ich war dabei «der Bub» von uns beiden. Ich spielte immer den Prinzen, Flo die Prinzessin.

Wann hatten Sie zum ersten Mal selbst eine Kamera in der Hand?

FLORINE: Kameras waren immer sehr präsent in unserem Haushalt. Unser Vater filmte alles – Kim, mich, unsere Ferien …

KIM: Eigentlich wollten wir Schauspielerinnen werden, das Filmen war sozusagen Mittel zum Zweck. In unseren ersten Filmen – da waren wir etwa acht – spielten wir mit Freunden aus der Schule, unsere Mutter war hinter der Kamera. Sie war eine wahnsinnige Geschichtenerzählerin. Bei uns gab es nie einfach «ein wenig Lego spielen». Bevor wir anfingen, mussten wir alle Figuren und ihre Hintergrundgeschichten kennen. Ein sehr ernstes Spiel!

Sie haben während des Gymnasiums beide ein Austauschjahr in den USA absolviert, gleich nach Abschluss ging es an die Filmschule in Los Angeles. Woher kam die Faszination Amerika?

KIM: Unser Vater hat in den USA gearbeitet, als wir klein waren, ich habe das Land mit drei oder vier Jahren zum ersten Mal besucht. Wir sind viel rumgereist, hatten da Familienfreunde. In erster Linie waren wir aber fasziniert vom Film, insbesondere von Hollywood in den 1980er- und 1990er-Jahren.

FLORINE: Die Schüleraustausche in Minnesota und Wyoming waren natürlich nicht zu vergleichen mit dem Leben in L. A. Das war der Midwest, das Nirgendwo.

Schauspielerin zu werden oder Filme zu machen, sind beliebte Kinderträume, denen gerade in der Schweiz kaum jemand ernsthaft nachgeht. Woher kam dieses Selbstverständnis, Ihre kreative Leidenschaft zum Beruf zu machen?

KIM: Unsere Eltern sind beide eher unkonventionell und haben uns schon immer gepusht, Entertainer zu werden. Wir beide waren in der Einzel-Stimmausbildung, im Chor, haben Instrumente gelernt, Ballett getanzt und hatten ständig Aufführungen. Das gab uns sicherlich das Selbstbewusstsein, vor Leuten zu performen. Klar, hinter der Kamera ist man weniger exponiert, aber wir offenbaren uns trotzdem. Unsere Eltern haben uns auch mit den nötigen Mitteln unterstützt, sonst wäre das alles wohl nicht möglich gewesen.

FLORINE: Mir wurde recht schnell klar, dass ich in der Schweiz nicht die Ausbildung finde, die ich machen möchte. Amerika war damals im Unterschied zu Zürich sehr praxisbezogen. Ich wollte keine Filmtheorie lernen, ich wollte Filme machen.

War immer klar, dass Sie dasselbe machen und dieselbe Schule besuchen würden?

FLORINE: Eigentlich schon. Ich war ein Jahr früher in L. A., aber Kim wusste da schon, dass sie auch kommen möchte. Bei unseren Bewerbungsfilmen führten wir beide Male Co-Regie. Uns war klar, dass wir am selben Ort sein mussten.

Kreative, die ins Ausland ziehen, behaupten oft, in der Schweiz werde man zum Durchschnitt erzogen. Einverstanden?

KIM: Ich glaube, man braucht einen gewissen Struggle im Leben, um kreativ zu sein. Der Wohlstand und die Lebensqualität in der Schweiz sind da vielleicht ein Hindernis. Als Künstlerin setzt man sich ja immer auch mit Problemen der Gesellschaft auseinander. In L. A. neben Obdachlosen zu wohnen oder Rassismus mitzuerleben, sind für die Arbeit schon inspirierend.

FLORINE: Auch die Auseinandersetzung mit den Grossen, die im Film sind. Du vergleichst dich in L. A. mit den Besten, das spornt an. In der Schweiz hat es weniger Leute, zu denen man aufschauen kann.

Arbeiten Sie hierzulande anders als in den USA?

FLORINE: In den USA prallen auf einem Set sicherlich mehr Egos aufeinander. In L. A. vermarktet sich jeder durchgehend. Hier ist das angenehmer, wir fühlen uns mit Leuten schneller verbunden.

KIM: Vielleicht liegt es auch an der Allgemeinbildung, die in Europa einen höheren Stellenwert hat. Unsere amerikanischen Kollegen von der Filmschule besuchten schon Grundschulen, in denen sie sich stark künstlerisch vertieften. Sie sind somit zwar extrem früh extrem gut, ihnen fehlt aber das breitere Wissen. Vielleicht trägt das auch dazu bei, dass wir mit Europäern mehr Gesprächsthemen haben.

Das Filmbusiness wird von Männern regiert. Wie fühlen Sie sich als junge Frauen in dieser Welt?

FLORINE: In Europa haben wir Sexismus noch nie gespürt, in den USA kommt das ab und zu vor. Viele, die uns kennenlernen, gehen davon aus, wir seien Schauspielerinnen. Selbst wenn wir sagen, dass wir Filme machen, bleiben sie beim Gedanken hängen. Das ist kein Affront an sich, aber jungen Männern passiert das sicher nicht. In den Köpfen ist das Wort «Regisseur» halt immer noch männlich konnotiert.

KIM: Als Frau muss man sich hinter der Kamera eher beweisen, auch am Set. Männer folgen lieber den Anweisungen von anderen Männern.

Nehmen Sie in Sachen Frauenquote im Film einen Wandel wahr?

KIM: Schon, ja. Es gibt langsam viele coole Regisseurinnen, die grössere Spielfilme machen und auch Erfolg haben.

FLORINE: Wir haben gern Frauen bei uns am Set, fördern und unterstützen diese. Wir mögen den Ausgleich. Aber klar, in erster Linie gehts um die Fähigkeiten, unabhängig vom Geschlecht.

KIM: Wir fanden es eigentlich immer cool, dass es im Englischen nur das Wort Director gibt. Seit Kurzem redet man jetzt aber vermehrt von Female Directors, sie haben teils sogar eine eigene Sparte bei Preisverleihungen. Da fragen wir uns schon: Ist das förderlich, Frauen so abzuspalten? Das hilft bei der Gleichstellung auch nicht wirklich.

In Ihrem preisgekrönten Kurzfilm «Forget Me Not» verarbeiten Sie das Verhältnis zu Ihrer Mutter, die unter einer bipolaren Störung litt und sich später das Leben nahm. Sind Filme auch eine Art Selbsttherapie?

FLORINE: Dieser war es sicher. Grundsätzlich haben alle unsere Filme einen persönlichen Hintergrund, es muss aber nicht immer therapeutisch sein. Unser Film für «Vogue Italia» zum Beispiel handelt von Isolation, was aber mehr ein Gesellschaftsthema ist als unser persönliches. Man muss nicht jede Thematik erlebt haben, aber man soll sich damit auseinandersetzen können.

Wie ist das bei der Kreation von Film­figuren? Sie sagen, eine Rolle sei nur gut, wenn man einen persönlichen Bezug schaffen kann.

KIM: Ein bekannter Regisseur sagte mal, dass ein Bösewicht, den man selber nicht versteht, ein schwacher Bösewicht sei. Jede Figur, die man in einem Drehbuch hat, muss überzeugt sein, dass das, was sie tut, das Richtige ist.

Sie sind fasziniert von Science-Fiction. Warum?

FLORINE: Wir sind mit unseren Filmen bisher oft in die Vergangenheit gereist. Für uns ist es fast logisch, uns jetzt der Zukunft zu widmen.

KIM: Wir sind sehr fasziniert von Welten, die nicht unsere sind. Wegzukommen vom Jetzt. Wir lieben alles, was nicht ganz real ist. Das gibt uns komplette Freiheit.

In welchem Mindset müssen Sie sein, um schreiben zu können?

FLORINE: Kim kann immer schreiben. Ich hingegen fühle mich nicht immer inspiriert. Ich glaube zwar, dass man sich zu Kreativität pushen kann. An manchen Tagen gelingt das aber besser als an anderen.

KIM: Wenn ich keine Zeit habe, fange ich meist gar nicht mit Schreiben an. Bin ich aber mal drin, vergesse ich mich komplett. Ich höre auf, zu essen, gehe einen Tag lang nicht aufs WC. Am Abend merke ich dann, wie dringend ich muss (lacht).

Muss man die eigene Kreativität im Zeitalter von unendlichem Bilder- und Informationsfluss schützen?

FLORINE: Ich finde eher das Tempo, mit dem wir Bilder und Medien konsumieren, schädlich. Heute muss man fast jeden Tag auf Instagram posten, wenn man erfolgreich sein möchte. Als Kreativer ist das gar nicht möglich. Wir arbeiten monatelang, manchmal jahrelang an unseren Projekten. Wir versuchen gar nicht erst, mitzuhalten.

KIM: Die Aufmerksamkeit des Publikums lässt natürlich auch nach. Wenn nach zwei Sekunden nichts passiert, driftet man weg.

«Denken» Sie einen Film gleich?

FLORINE: Kim denkt eher in Worten, ich in Bildern. Ich sehe oft etwas Visuelles, woraus ich dann ein Konzept ableite. Bei Kim ist es meist andersherum.

KIM: Das ist das Schöne daran, zu zweit zu arbeiten: Ideen wachsen extrem schnell. Ich habe schon von Drehbuchautoren gelesen, die ein Gespräch mit sich selbst aufschreiben, um Ideen zu sammeln.

Lassen sich auch Selbstzweifel zu zweit einfacher bewältigen?

FLORINE: Meistens zweifelt immer nur eine von uns. Wir können einander gut abholen.

KIM: Ich finde, Selbstzweifel dürfen auch mal sein. Wir haben dieselben Herausforderungen wie alle selbständig Schaffenden: Man weiss nie, wann das nächste Projekt kommt. Beim Schreiben erlauben wir uns aber Auszeiten, wenn wir nicht weiterkommen.

Sind Ihre Leben so symbiotisch, wie es den Anschein macht?

KIM: Ja, es ist schon sehr extrem. Wir sind eigentlich immer zusammen, haben auch immer gemeinsam gewohnt, wenn wir am selben Ort waren.

Hatten Sie je das Bedürfnis, auszubrechen, mal etwas allein zu machen?

FLORINE: Nicht bei der Arbeit, aber als Schwestern.

KIM: Manchmal ist Alleinsein schön. Aber dann telefonieren wir jeden Tag. Wir stehen ständig im Kontakt.

FLORINE: Eventuell suchen wir uns jetzt eigene Wohnungen. Aber dieselbe Stadt soll es schon sein.

Haben Sie auch dieselben Freunde?

KIM: Ja (lacht). Klar, es gibt solche, die mit einer von uns etwas enger sind. Ausgehen tun wir aber immer gemeinsam.

FLORINE: Unsere Freunde mussten erst lernen, dass es uns nur im Doppelpack gibt.

KIM: Genauso wie Florines Freund!

Ist Ihr enges Verhältnis vielleicht auch auf das familiäre Schicksal zurückzuführen?

KIM: Gut möglich, dass wir uns so nahestehen, weil wir in schweren Zeiten zusammenhalten mussten. Aber wir waren schon als kleine Mädchen eng, lange bevor die Dinge problematisch wurden.

Worin unterscheiden Sie sich?

KIM: Unsere Persönlichkeiten sind schon anders.

FLORINE: Kim ist etwas lauter, extrovertierter. Ich bin scheuer, ziehe mich eher mal zurück. Ich bin mehr Kopfmensch, Kim ist impulsiver.

In der Fotografie kann man oft das weibliche Auge vom männlichen unterscheiden. Ist das im Film genauso?

FLORINE: Ich finde, man merkt das eher beim Schreiben.

KIM: Die männliche Ästhetik ist die, die man immer gesehen hat. Frauen sind vielleicht sensibler. «Call Me By Your Name» von Luca Guadagnino hätte aber auch aus Frauenhand stammen können. Kathryn Bigelow wiederum hat für mich eine sehr männliche Ästhetik und Themenwahl.

FLORINE: Es wäre ja auch doof, wenn Männer nur Action und Frauen nur sensible Filme machen würden. Ich will unbedingt mal einen Actionfilm drehen!

Mode spielt eine wichtige Rolle in Ihren Filmen. Was gefällt Ihnen daran?

FLORINE: Mode ist für mich genauso wichtig wie die Kamera oder das Production-Design. Es muss alles im Einklang sein.

KIM: Wir fangen jede Produktion mit einer Farbpalette an und halten diese für jeden Bestandteil ein.

FLORINE: Privat mag ich maskuline, moderne Schnitte. Kim ist eher retro.

Gibt es Filme, die Sie gern gedreht hätten?

FLORINE: Den neuen «Blade Runner».

KIM: Herr der Ringe». Und «Abbitte».

Was ist Ihr kurzfristiges Ziel, was Ihr langfristiges?

KIM: Kurzfristig ist es sicher der erste Spielfilm. Da sind wir in der Revisionsphase des Drehbuchs. Ziel wäre es, das nächste Jahr damit zu starten. Langfristig möchten wir gern eine Serie drehen.

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