Giorgia von Albertini erklimmt neue Höhen

Gipfeltreffen

Giorgia von Albertinis Karriere verläuft so steil wie eine Engadiner Bergwand. Als Direktorin der Galerie Hauser & Wirth in St. Moritz erklimmt sie neue Höhen.

Charlotte Fischli
27. Nov. 2024
Giorgia von Albertini

Man würde vermuten, man treffe Giorgia von Albertini, seit 2022 Direktorin der Galerie Hauser & Wirth St. Moritz, zum Interview an der Via Serlas. Stattdessen begegnen wir der 32-Jährigen im siebten Arrondissement in Paris, über den Dächern der Stadt, dort, wo der Eiffelturm zum Greifen nahe scheint. Im Oktober, der im Engadin Zwischensaison bedeutet, ist von Albertini vor allem hier – vorausgesetzt, sie besucht gerade keine Kunstmesse, keinen Sammler oder einen der zahlreichen Standorte ihres Arbeitgebers, der zu den mächtigsten Galerien der Welt gehört.

Von Albertini geht ihren Weg in der Kunstwelt ambitioniert: In Zürich geboren und im westafrikanischen Niger sowie im Bündnerland aufgewachsen, assistierte sie während ihres Studiums der Kunstgeschichte und der Politikwissenschaften der renommierten Kuratorin Bice Curiger. Mit 23 Jahren wurde sie Studiomanagerin und Leiterin der Stiftung des Schweizer Künstlers Not Vital, mit 29 Jahren freie Kuratorin. Die Zusammenarbeit mit Hauser & Wirth «entwickelte sich organisch», so die Schweizerin, die darum bittet, das Gespräch in Hochdeutsch zu führen, um sich präziser ausdrücken zu können. Ein weiterer Coup steht von Albertini demnächst bevor: Sie eröffnet Mitte Dezember in der St. Moritzer Dependance die Ausstellung «Jean-Michel Basquiat. Engadin».

BOLERO Welche Rolle spielte Kunst in Ihrer Erziehung?

GIORGIA VON ALBERTINI Ich bin bereits als Kind mit ihr in Berührung gekommen, sie war Teil meines Familienumfelds. Meine Mutter war Künstlerin, bevor sie später Umweltingenieurin wurde, und lebte in den frühen Achtzigerjahren in New York. Da schuf sie Skulpturen – sogenannte «body objects» –, die sehr nahe mit dem Körper in Verbindung standen. Sie hat die Nähe zur Kunst ins Familienleben gebracht.

Sie verbrachten die ersten Jahre Ihres Lebens in Niger, wo Ihr Vater in der Entwicklungsarbeit tätig war. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Ich war da natürlich in einem radikal anderen Umfeld als in der Schweiz, wo wir so extrem privilegiert sind. Niger ist eines der ärmsten Länder der Welt. Eine solch andere Realität als Kind kennenzulernen, ist unglaublich horizonterweiternd. Die Erfahrung hat einerseits ein Verständnis für verschiedene sozioökonomische Umstände und Klassen hervorgerufen und andererseits mein kulturelles Verständnis ausgedehnt: Es gab andere Musik, andere Bräuche, andere Farben, andere Materialien. Es ist bereichernd, wenn man als Kind das Glück hat, zu verstehen, dass die Welt so vielschichtig ist und dass es so viele verschiedene Weisen gibt, zu leben.

Erinnern Sie sich an die ersten Künstler oder Werke, die Sie berührt haben?

Es gab mehrere Schlüsselmomente. Ein Werk, das mein Denken angeregt hat, war das «Schwarze Quadrat» von Kasimir Malewitsch von 1915. Der Titel beschreibt das Werk: Es ist ein schwarzes Quadrat auf weissem Grund. Mich faszinierte einerseits seine Radikalität, andererseits dessen Aura und unverkennbare Patina. Unglaublich, dass etwas, was so bahnbrechend rigoros in seiner Abstraktion war, heute schon wieder ein Teil der Geschichte ist. Mich hat an der Kunst früh fasziniert, dass sie die Zeit überdauern kann, dass sie uns etwas über unsere Menschheitsgeschichte lehren und auch über Jahrhunderte hinweg eine gewisse Ausstrahlung aufrechterhalten kann. Gute Kunst kann Intellekt und Emotion auf unvergleichbare Art vereinen.

Nachdem Sie während Ihres Studiums der renommierten Kuratorin Bice Curiger assistierten, wurden Sie mit 23 Jahren Studiomanagerin des Schweizer Künstlers Not Vital. Was haben Sie von der sechsjährigen Zusammenarbeit mit ihm mitgenommen?

Not hat eine unglaubliche Energie und wahnsinnig viel Drive. Er lässt sich von nichts aufhalten und materialisiert Projekte, die andere für unmöglich halten. Das ist ein sehr seltenes und inspirierendes Können. Was viele Leute vereint, die ich bewundere, ist, dass sie einfach ihren Weg gehen – auch wenn es Jahre oder gar Jahrzehnte dauert, bis sie sich etablieren können. Sie glauben an ihre Arbeit, arbeiten hart für ihre Vision und geben nie auf.

Empfanden Sie Ihr junges Alter in der hierarchischen Kunstwelt je als Hindernis?

Ich denke nicht so viel ans Alter und musste in der vergangenen Woche, in der ich Geburtstag feierte, sogar überlegen, wie alt ich überhaupt bin – nämlich 32 (lacht). Ich habe schon immer gern mit Leuten gearbeitet, die älter sind, und habe Freunde in allen Altersklassen. Natürlich ist jeder Lebensabschnitt charakteristisch und jede Generation anders. Gleichzeitig ist der Austausch zwischen verschiedenen Gruppen so bereichernd und inspirierend. Es ist sicher so, dass man als junge Frau, egal in welcher Branche, präziser, noch härter, noch schneller arbeiten muss, um von allen ernst genommen zu werden. Ich empfand dies aber stets als Motivation.

Hatten Sie mit der berüchtigten Kunstwelt je Berührungsängste?

In jedem Sektor treffen verschiedene Realitäten aufeinander. Natürlich gibt es in der Kunst Rekordsummen und milliardenschwere Sammler. Gleichzeitig gibt es auch unzählige Leute, die aus der Liebe zur Kunst für wenig Geld unglaublich hart arbeiten. Ich halte mich an dem fest, was mich wirklich interessiert: die Kunst in ihrer Essenz, die Künstler als Personen sowie der Austausch mit Sammlern – oftmals spannende Persönlichkeiten, von denen man viel lernen kann. Und ich traue mich, einfach so zu sein, wie ich bin.

Was hat Sie zur besten Kandidatin für die Position als Direktorin von Hauser & Wirth St. Moritz gemacht?

Das muss die Galerie beantworten (lacht). Es gibt Qualitäten, die für jede Arbeit wichtig sind: diszipliniert zu sein, arbeitswillig, nett, offen, interessiert.

Ihre Bündner Wurzeln waren sicherlich ein Pluspunkt.

Ja, und das ist natürlich toll. Es gibt immer weniger junge Leute, die in der Gegend bleiben. Umso schöner, dass ich dank meinen Stellen sowohl bei Not Vital als auch bei Hauser & Wirth wieder in meine Heimat zurückkehren und die lokale mit der internationalen Gemeinschaft zusammenbringen durfte.

Wir treffen uns heute in Paris. Wie viel Ihres Schaffens findet im Ausland statt, und wie oft müssen Sie vor Ort in St. Moritz sein?

Die Galerie ist jeweils im Sommer und Winter geöffnet – Frühling und Herbst sind im Engadin Zwischensaisons. In dieser Zeit bin ich oft in Paris und auf Reisen. In den letzten zwei Wochen war ich zum Beispiel an der Frieze in London, danach in Italien, in der Schweiz an einer Konferenz und dannfür die Art Basel Paris wieder hier.

Wer ist Ihre Klientel in St. Moritz?

Ich liebe es, dass St. Moritz sehr schweizerisch und zugleich wahnsinnig international ist. Traditionellerweise gibt es viele Italiener, Briten, Deutsche, aber auch Skandinavier und Amerikaner. Als junge Person freut es mich auch sehr, dass es zunehmend auch junge Sammlerinnen und Sammler gibt, die im Engadin Zeit verbringen.

St. Moritz ist in den letzten Jahren vom Jetset-Hotspot zum Mittelpunkt für Kunst und Kultur mutiert. Wie nehmen Sie diese Entwicklung wahr?

Als kulturinteressierte Person finde ich es natürlich grossartig, dass das kulturelle Angebot im Engadin stetig wächst. Die Region ist ohnehin immer im Wandel – auch der Sommertourismus wird stärker, was ich extrem begrüsse. Ich liebte die warmen Monate im Engadin schon immer, das Wandern und das Schwimmen in den Bergseen. Toll auch, dass sich die Bewegung auf alle umliegenden Dörfer ausgeweitet hat.

Für die letzte grosse Ausstellung in der Dependance in St. Moritz, «Gerhard Richter. Engadin», hat Hauser & Wirth mit dem Segantini-Museum sowie dem Nietzsche-Haus zusammengearbeitet. Verfolgen Sie mit anderen Kultur- und Kunstinstitutionen in der Region gemeinsame Ziele?

Die Kollaboration mit diesen beiden Häusern war besonders, weil sie den Besuchern die Vielschichtigkeit der kulturellen Landschaft aufzeigte. Uns ist es als Galerie wichtig, im Umfeld eingebettet und mit unseren Nachbarn im Austausch zu sein. Dieser Ansatz kommt auch in der Engadin Art Association zutage. Im Verein kommen alle Galerien, Museen und Stiftungen der Region zusammen.

Mitte Dezember eröffnen Sie den nächsten Blockbuster: «Jean-Michel Basquiat. Engadin». Wie kam es dazu?

Eine Ausstellung mit Basquiats Engadiner Werken zu realisieren, war ein Traum von Iwan Wirth. Basquiat kam nach seinem ersten Besuch in der Schweiz 1982 – anlässlich einer Ausstellung mit dem legendären Galeristen Bruno Bischofberger – rund ein Dutzend Male zurück und besuchte davon siebenmal das Engadin. Einerseits schuf er in St. Moritz Werke, andererseits liess er, zurück in New York, auch Schweizer Symbole in neue Arbeiten einfliessen. Diese Werke in der Umgebung, der Landschaft zu sehen, in der sie geschaffen wurden und auf die sie sich beziehen, ist eine einmalige Erfahrung. Eine solche Ausstellung hat es bisher nicht gegeben, und wir sind glücklich, mit den Basquiat-Experten Dieter Buchhart und Anna Karina Hofbauer an der Realisation dieses ambitionierten Projektes gearbeitet zu haben.

Wie lange war die Vorbereitungszeit für die Schau?

Ein solches Projekt vorzubereiten, dauert Jahre, mitunter auch weil internationale Leihgaben Teil der Ausstellung sind. Dazu kommt der Ausstellungskatalog, den wir publizieren. Das bedeutet immer auch neues Gedankengut, neue Recherchen.

Einige der Werke, die Sie ausstellen werden, hängen sonst hinter verschlossenen Türen. Sollte grossartige Kunst nicht für alle zugänglich sein?

Ich finde, sowohl private wie öffentliche Momente haben ihre Berechtigung – sie haben in der Kunst schon immer existiert. Umso schöner ist es, wenn grosse und wichtige Privatsammler ausgewählte Werke für Ausstellungen zur Verfügung stellen. Ein wunderbarer Akt, um Brücken zu schlagen.

Wie hat sich das Kaufverhalten von Sammlern in den letzten Jahren verändert?

Angesichts der aktuellen Weltwirtschaftslage und der diversen Kriege und Konflikte, ist dies eine komplexe Frage. Was man klar sieht, ist, dass Werke von grosser Qualität solche Phasen immer überdauern, gar an Wert gewinnen. Natürlich ist es eine Freude und ein Privileg, mit solchen Werken zu arbeiten und sie platzieren zu dürfen.

In der Modeindustrie überleben derzeit fast nur Marken, die sich entweder ganz unten oder ganz oben im Preissegment positionieren. Ist das in der Kunst gleich?

In ökonomischen Boomphasen ist es für alle Segmente leichter, erfolgreich zu sein – somit auch für neue Labels oder Galerien, die sich über Instagram vermarkten lassen oder auf einen Trend setzen. Sobald die Zeiten etwas polarisierter oder schwieriger werden, folgt ein Filtermechanismus. Die Wichtigkeit von Qualität wird in solchen Momenten sichtbar.

Von all den Tätigkeiten, die Sie schon gemacht haben – was begeistert Sie an der Arbeit in der Kunst am meisten?

Der Austausch mit den Menschen, mit Künstlerinnen und Künstlern. Ich habe das Privileg, oft vor Werken zu stehen, die von herausragender Qualität sind. Das sind immer Momente von grosser Freude und Dankbarkeit.

Bleibt Ihnen eigentlich Zeit, neue Künstler zu entdecken?

Ja. Ich bin auch mit vielen jungen Künstlerinnen und Künstlern befreundet. Sobald ich die Zeit finde, bin ich in Ausstellungen. Das ist ein Teil meines Lebens, den ich sehr liebe und schätze.

Welche Kunst würden Sie selbst sammeln, wenn Sie unbeschränktes Budget hätten?

Ich liebe das Werk von Künstlerinnen wie Eva Hesse, Louise Bourgeois oder auch sehr zeitgenössische, radikale Positionen wie die Skulpturen von Nairy Baghramian. Ich habe eine Affinität zu Skulptur und Materialien. Zum Beispiel liebe ich die Glasskulpturen von Andra Ursuţa. Ausserdem bin ich fasziniert von Künstlerinnen und Künstlern, die zu ihrer Lebenszeit Aussenseiter waren und Werke kreiert haben, die eine wahnsinnige Resonanz haben – oftmals auch aufgrund ihrer Leiden; van Gogh zum Beispiel. Kunst hat für mich oft etwas sehr Existenzielles. Ich bin von Positionen angezogen, die nicht nur konzeptionell und formal sind, sondern auch zutiefst menschlich.

«Jean-Michel Basquiat. Engadin», Hauser & Wirth St.Moritz, vom 14.Dezember bis 29.März 2025.