Nein, gar nicht. Sarahs Kunst ist sehr spirituell, ohne politische Aussage, es geht allein um ihre innere Welt. Ihre Mutter war Amerikanerin, ihr Vater ist Saudi. Er ist in einem der Videos zu sehen. Der Titel «Sometimes We Are Eternal» kommt vom niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza, der vor dreihundert Jahren sagte, dass unser Geist ewig lebt, weil wir an Gott glauben. Der französische Philosoph Alain Badiou entwickelte eine Vision von Ewigkeit, die nicht religiös ist. Seine Idee ist es, dass unser Körper in die Natur übergeht. Wir können fühlen, dass wir ewig leben, weil wir ein Teil des Planeten sind. Beide Male ist es die Suche nach dem Unendlichen in einer endlichen Welt.
Und genau danach sucht auch Sarah Brahim?
Sie möchte zeigen, wie ein Körper Spuren hinterlassen kann, selbst dann, wenn er nicht mehr da ist. Sarah Brahim studierte in San Francisco bei Anna Halprin, die den Tanz in den 1960er- und 1970er-Jahren aus dem Theater herausgeholt und in die Natur gebracht hat. Die Vorstellungen fanden auf einer grossen Bühne im Wald statt. Die Tänzer hatten sehr einfache Aufgaben wie Atmen oder eine einzige sich wiederholende Bewegung. Auch Sarah nutzt diese kleinen Aufträge, um den Körper mit der Materialität der Welt zu vereinigen.
Was war Ihre Rolle im Entstehungsprozess?
Als Kuratorin habe ich die Räume der Villa transformiert. Alle Böden wurden mit weisser Folie abgedeckt, die Fenster sind mit milchigen Folien beklebt und bilden so einen Filter. Damit sind wir in keinem Haus mehr, sondern gleichsam in einem geistigen Raum. Zuvor gab es monatelange Gespräche. Während Sarahs Residency hier bei uns in den Monaten Juli und August haben wir über jedes Werk gesprochen, welche Richtung es einschlagen soll, welches Medium und welches Material passend ist. Die Produktion der Exponate fand in Mailand statt, wo Sarah heute ihr Studio hat. Manche der Fotos stammen auch von einem vorhergehenden Aufenthalt im Watermill Center von Robert Wilson in New York.
Welches Ziel verfolgen Sie mit Ihrer Arbeit für die Foundation?
Ich möchte neue Talente entdecken und ihnen ein Publikum geben. Ich will nicht machen, was vor mir schon gemacht worden ist oder von mir erwartet wird. Die Menschen sollten nach Lugano kommen und etwas Neues entdecken, etwas, das sie in Paris, London, New York oder Berlin noch nicht gesehen haben. Kunst hat so viele Facetten, man muss sie mit einem 360-Grad-Blick sehen. Das ist die Essenz meiner Arbeit.
Schon für das Pre-Opening im letzten November haben Sie Tänzer und einen Musiker hierher eingeladen. Warum?
Auch wir haben unsere Geister. Die Villa Heleneum wurde zwischen 1930 und 1934 für die Pariser Tänzerin Hélène Biber erbaut. Also habe ich versucht, einen Bezug herzustellen. Man spürt die starke Beziehung, die sie zur Landschaft hatte. Wenn man das Wohnzimmer betritt, wirkt das zentrale Fenster wie eine grosse Kinoleinwand mit Blick auf den See. Es ist so tief, dass man diesen kinematografischen Blick sogar hat, wenn man sitzt.
Sie arbeiten gern mit dem Kontext. Ihre erste grosse Ausstellung diesen Frühling hiess «Un lac inconnue».
Für mich war der Lago di Lugano wirklich ein unbekannter See. Als ich die Bally Foundation das erste Mal besucht habe, war ich fassungslos. Dieser Ort ist sehr speziell. Jeden Tag, den ich hier verbringe, bin ich in einer anderen Gemütsverfassung. Es ist nicht nur schön, es hat auch etwas Wildes und Beängstigendes. Damit musste ich arbeiten. Ich entschied mich für einen Dialog zwischen innen und aussen – die Landschaft, die uns umgibt, und die innere Gefühlswelt. Dieses Thema nahmen die 22 Werke auf, die im Haus und im Garten verteilt waren. Die Ausstellung war eigens für diesen Ort kuratiert, es gab Gemälde, Skulpturen, Fotografien, Video- und Performancearbeiten.
Waren auch Schweizer Künstler vertreten?
Einige. Zum Beispiel Caroline Bachmann, eine Malerin aus Lausanne, die gerade bei Le Crédac nahe Paris ausstellt, Ligia Dias, Schweizerin mit portugiesischen Wurzeln, Hélène Muheim, eine Französin, die am Genfersee lebt, oder Karim Forlin aus dem Tessin. Ich möchte mich aber nicht auf Schweizer Künstler beschränken. Ich finde, Protektionismus ist eine schlechte Idee. Wer etwas beschützt, verschliesst sich auch. Die Regionalität der Kunst ist einsehr abstraktes Konzept. Austausch ist der bessere Weg, also eine lokale Szene mit einer internationalen zusammenzubringen. Es ist doch schön, wenn fremde Menschen die Schweiz verstehen, ihre Geografie, ihre Geschichte, ihre Legenden.
Haben Sie bereits die Archive von Bally in Schönenwerd besucht?
Natürlich. Die ganze Geschichte rund um Bally ist beeindruckend. Der Firmengründer Carl Franz Bally war nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann, er machte auch viel für seine Stadt. Neben den Fabriken baute er Schulen und einen Park. Und er war für seine Angestellten wie ein Vater. Man findet in den Archiven Hunderte von Fotos von Fabrikarbeitern mit Geschenken, die er ihnen zum Geburtstag gemacht hat. Es gibt aber auch Zeichnungen von Le Corbusier für Ladenausbauten. Man sieht, dass Mode mehr sein kann – eine Art, zu denken. Ich würde dieses Material gern nutzen. Wenn ein Künstler die Archive betreten würde, könnte eine unglaubliche Arbeit daraus entstehen.
Was gab den Ausschlag, dass Sie von Paris nach Lugano kamen?
Was für eine Frage! Als mir Nicolas Girotto, der CEO von Bally, den Job angeboten hat, war das wie ein Geschenk. Es passiert nicht oft, dass jemand zu dir kommt und sagt: «Ich habe da eine Contemporary Art Foundation, für die ein neues Konzept erarbeitet werden muss. Du hast absolute Freiheit, deine Ideen umzusetzen.» Das war wunderbar. Ich habe keine Minute gezögert.
Wie war es, als Sie zum ersten Mal hierherkamen?
Nicolas sagt immer, dass ich fünfzehn Minuten lang immer wieder gesagt habe: «Das ist unglaublich!» Ich konnte nicht aufhören. Irgendetwas am Haus, am See, an den unberührten Bergen rundum hat mich gepackt.
Die Villa wurde als private Residenz gebaut, nicht als Museum. Das birgt architektonische Limitationen.
Sicher, aber ich empfinde sie nicht als Einschränkung. Ich denke nicht, dass die Kunst bestimmte Orte braucht, um ausgestellt zu werden. Sie muss überall möglich sein. Ich finde die Atmosphäre eines Privathauses sogar schön. Für meine erste Ausstellung war das passend. Und mit der aktuellen Ausstellung zeigen wir gerade, dass wir auch eine Art White Cube herstellen können. Natürlich kann ich keine zwanzig Meter grosse Skulptur installieren, aber ich werde anderes machen.
Warum haben Sie sich nach dem Architekturstudium der Kunst zugewandt?
Das war keine rationale Entscheidung. Ich hatte keine Wahl. Ich bin jemand, der von seiner Intuition getrieben wird, von seinen Gefühlen. Dabei habe ich viele Jahre damit verbracht, Architektur zu studieren. Erst in meiner Heimat Bari, dann bin ich im Alter von 23 Jahren für ein Erasmus-Stipendium nach Paris. Mein Diplom habe ich an der Technischen Universität Berlin gemacht. Aber ich habe immer nach der Abstraktion gesucht. Ich bewege mich in der Welt der Ideen und nicht in der Welt der Backsteine. Als ich das meinen Eltern gesagt habe, hat meine Mutter angefangen, zu weinen.
Im Palais de Tokyo fanden unter Ihrer Leitung legendäre Performances statt, etwa die Show von Anne Imhof. Würde so etwas auch nach Lugano passen?
Ich würde es niemals ausschliessen. Aber im Palais de Tokyo war es meine Rolle, eine Nische auszufüllen. Ich habe mich mit provokativer Kunst beschäftigt und in der sehr jungen Underground-Szene recherchiert. In der Villa Medici, wo ich vorher tätig war, restaurierte ich historische Filme von Marguerite Duras. Mein Spektrum ist gross. Für die nächste Ausstellung in Lugano plane ich etwas spezifisch Tessinerisches. Es soll um die Palmen gehen, die sich da ausbreiten und die heimische Flora verdrängen. Das kann historisch, kulturell, aber auch politisch gedeutet werden.
Was können Sie mit Ihrer Arbeit bewirken?
Ich möchte eine Einladung aussprechen. Ich mag die elitäre Haltung zeitgenössischer Kunst nicht. Man kann die Kunst ganz unterschiedlich begreifen, und jeder kann sich damit beschäftigen. Auch wenn Werke sehr konzeptionell und nicht einfach zu verstehen sind, versuche ich immer, das grösstmögliche Publikum zu erreichen.
Letzte Woche hat die Kunstmesse Paris+ stattgefunden. Was waren Ihre Eindrücke?
Ich habe schon lange keine Konzentration von so hoher Qualität gesehen. Es ist offensichtlich, welch positiven Schub der Direktor Clément Delépine eingebracht hat. Auch dank ihm erobert die Pariser Kunstszene wirklich wieder Boden. Dies zeigen auch die junge Kunstmesse Paris Internationale und die institutionellen Ausstellungen. Es war bewegend, in der Bourse de Commerce der Pinault Collection in Leben und Werk von Mike Kelley einzutauchen.
Haben Sie mit der Bally Foundation auch eine Kunstkollektion?
Wir verleihen jedes Jahr den Bally Artist Award. Dazu gehört, dass das prämierte Werk angekauft wird. Diese Sammlung ist neu im Masi Lugano integriert. Es ist wichtig, dass die Werke korrekt konserviert und an andere Museen ausgeliehen werden.
Wie schlagen sich Inflation und Krieg auf die Kunst nieder?
Erstaunlicherweise hat man in Paris nicht viel davon mitbekommen. An der Art Basel letztes Jahr war das ganz anders: Die Ausstellungsplattform «Unlimited» beschäftigte sich sehr stark mit dem Krieg. In Paris gibt es zur Messe eben keine grosse Schau, die eine Idee zusammenfasst. Es sind mehr die Kunstinstitutionen und die historischen Orte wie etwa die Tuilerien oder die Place Vendôme, die bespielt werden. In diesem Umfeld kommt ein differenzierter Ansatz zum Tragen.
Leben Sie noch in der Stadt?
Ja, ich pendle zwischen Lugano und Paris. Zwei wunderbare Orte. In Paris gibt es zurzeit viel Unruhe und Aggression auf den Strassen. Es ist eine Gesellschaft, die sehr schnell reagiert. Lugano befreit mich von dieser täglichen Spannung.
Ist es auch ein wenig wie Nachhausekommen?
Es ist wunderbar. Nach dreissig Jahren kann ich im Beruf endlich wieder meine Muttersprache sprechen. Und es gibt italienische Lebensmittel, die ich so mag.
Haben Sie schon einen Lieblingsort gefunden im Tessin?
Ja, direkt gegenüber der Villa Heleneum auf der anderen Seeseite. Dort gibt es ein kleines Restaurant, das man nur mit dem Boot erreicht. Bei Nacht ist der Berg darüber tiefschwarz, und man sieht nur ein paar Lichter blitzen. Das Essen hier ist einfach wunderbar!