Kolumne

Der Grössenwahn der Pessimisten

Peter Stamm (59) wurde 2018 für «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (2018) mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. «Das Archiv der Gefühle» (2021) ist sein jüngster Roman. In der Kolumne teilt der Schriftsteller seine Gedanken.

Peter Stamm

Im Lied «Warum syt dir so truurig?», das Mani Matter kurz vor seinem Tod 1972 schrieb, wunderte er sich darüber, dass die Schweizer trotz gesunder Kinder und beruflichem Erfolg, trotz Altersvorsorge und sonstigen Versicherungen so traurig seien. Und dann heisst es

Vilicht, wenn der e Grund hättet,

wäret der weniger truurig.

Mänge, wenn ds Läben ihm wehtuet,

bsinnt sech derdür wider dra.

Heute, scheint es, haben wir genug Gründe, traurig zu sein, Corona, die Klimaerwärmung, der Krieg in der Ukraine. Aber weniger traurig sind wir deswegen nicht. Gerade bei jungen Menschen spüre ich oft eine Verzweiflung, die mir wehtut und mir Sorgen macht. Nicht nur, weil sie darunter leiden, sondern auch, weil verzweifelte Menschen mut- und antriebslos sind. Und wenn wir in diesen Zeiten etwas brauchen, dann sind es Menschen mit Energie und Zuversicht.

Optimismus ist genauso wie Pessimismus eine Charaktereigenschaft und hat wenig mit der Weltlage zu tun. Trotzdem glaube ich, dass man Optimismus lernen kann. Die erste und vielleicht wichtigste Bedingung, zuversichtlich in die Zukunft zu schauen, ist Bescheidenheit.

Die Unterhaltungsindustrie redet heute jedem hübschen oder talentierten Teenager ein, er oder sie könne das nächste Topmodel, der nächste Superstar werden. Viele Eltern loben noch die missratenste Zeichnung und den erbärmlichsten Vortrag ihrer Sprösslinge als Meisterwerk. Bei der Diskussion von Texten von Studierenden ist mir aufgefallen, dass vor jeder Kritik ein Lob geäussert wird, auch wenn die Leistung noch so schlecht war. Das war ein toller Vortrag, aber … Die Folge ist eine Generation junger Menschen, die nicht mehr oder weniger begabt sind, als wir es waren, aber sehr viel selbstbewusster. Das muss nicht schlecht sein, nur führt es manchmal zur Selbstüberschätzung und dann zum Katzenjammer. Nur eine wird das nächste Topmodel, nur einer der Superstar, alle anderen gehen leer aus und fühlen sich als Versager, denn nur der Gewinner zählt. Dass nicht alle die Besten sein können, ist selbstverständlich, problematisch ist der Anspruch und die Enttäuschung der Verlierer.

Auch am Anspruch, den Klimawandel zu verhindern oder den Krieg in der Ukraine zu beenden, muss der Einzelne natürlich scheitern. Aber statt kleine Schritte zu machen, die einen auch ans Ziel bringen, verfallen viele in eine beleidigte Hoffnungslosigkeit. Wenn ich die Welt nicht retten kann, dann ist sie nicht zu retten, sagt der Pessimist in seinem Grössenwahn.

Als ich vor einiger Zeit an der grossen Klimademo teilnahm und es vor der UBS plötzlich hiess, alle sollten sich hinsetzen, um gegen die Grossbank zu protestieren, machte ich wohl oder übel mit. Aber ich hatte ein seltsames Gefühl dabei. Nicht nur, weil ich an der Wirksamkeit der Aktion zweifelte und sie mir etwas theatralisch vorkam. Auch weil ich dachte, wir sollten nicht Wege blockieren, wir sollten neue Wege gehen.

Die Klimajugend hat viel bewegt, und das ist ihr hoch anzurechnen. Aber ich denke, wir sind an einem Punkt, an dem Blockaden nicht mehr reichen. Wir sollten aufstehen, vorwärtsgehen, Dinge anpacken und verändern. Manche haben das schon getan und den Marsch durch die Institutionen angetreten, der länger dauert und kräftezehrender ist als jede Demonstration. Dabei müssen wir nicht die ganze Welt auf einen Schlag retten. Wir brauchen keine Superstars, nicht jede und jeder kann und muss eine Greta sein. Tausend Menschen, die einen Schritt machen, bringen die Gesellschaft weiter als ein einzelner, der tausend Schritte macht.

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