DEM ŒUVRE ERGEBEN

Hinter seiner Stirn ist es niemals still. Seine Hingabe an die Musik macht Gianandrea Noseda zu einem der grössten Dirigenten unserer Zeit.

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Ein Monster sei er. Ein grössenwahnsinniges Spektakel über Macht und Liebe, in dem sich überirdische Musik und überwältigende Dramatik vereinen, um am Ende in einem apokalyptischen Finale zu gipfeln. Richard Wagners Opernzyklus «Der Ring des Nibelungen» – Wagner-Kenner sprechen nur vom «Ring» – gilt als eines der monumentalsten, genialsten und komplexesten Werke der klassischen Musik. Fast drei Jahrzehnte, von 1848 bis 1874, hat Wagner daran geschrieben. Neun davon lebte er als politisch Vertriebener in Zürich, wo er 1853 im Hotel Baur au Lac erstmals an vier Abenden die komplette Dichtung seiner Tetralogie vortrug. Würde man sich das Mammutwerk um Wotan, den wütenden Göttervater, am Stück anhören, es dauerte über sechzehn Stunden. Nur die besten Opernhäuser der Welt können dieses Riesenopus, das aus den vier Opern «Das Rheingold», «Die Walküre», «Siegfried» und «Götterdämmerung» besteht, mit der geforderten, wagnerwürdigen Brillanz inszenieren.

Um eben dieses «Monster» zu zähmen, hat Intendant Andreas Homoki den italienischen Stardirigenten Gianandrea Noseda als Musikdirektor in die Limmatstadt geholt. Es ist der erste «Ring» seit zwanzig Jahren am Zürcher Opernhaus. In der Spielzeit 2023/24 wird der ganze Zyklus während acht Tagen aufgeführt. Derzeit spielt das Opernhaus Teil zwei, die «Walküre». Vor einer Sitzprobe dazu – es heisst «Sitzprobe», weil die Sängersolisten zwar bereits mit dem Orchester üben, aber auf Stühlen sitzen und noch nicht auf der Bühne stehen – stehlen wir Maestro Noseda eine knappe Stunde seiner kostbaren Zeit.

Maestro, auch für Dirigenten ist der «Ring» eine der grössten musikalischen Herausforderungen überhaupt. Wie kommen Sie zurecht?

Bisher hatte ich mich nie bereit gefühlt für den «Ring». Aber gewisse Angebote kann man nicht ausschlagen. Ich bin achtundfünfzig, wenn nicht jetzt, wann dann? Das Opernhaus Zürich bietet ideale Bedingungen für diese Mammutaufgabe. Alles funktioniert effizient, das ist fantastisch, weil ich mir keine Sorgen über Organisation und Planung machen muss, ich habe nur meinen Job zu erledigen. Bei aller Disziplin herrscht eine warme Menschlichkeit, wir sind eine international zusammengewürfelte Truppe. Wir leben eine Willkommenskultur, jeder wird respektiert und unterstützt.

Ihr Orchester, die Philharmonia Zürich, habe sich Hals über Kopf in Sie verliebt. Sie seien «brillant und intensiv, inspirierend, ein aktiver Vulkan und mit grossartigem Humor gesegnet»

So soll es sein (lacht)! Die Liebe ist gegenseitig. Wir arbeiten wunderbar zusammen. Für jedes Repertoire suche ich nach dem speziellen Sound, und die Musiker sind sehr engagiert und offen für Neues.

Wie viel Zeit verbringen Sie in der Schweiz?

Ich muss zwei Neuproduktionen und zwei Wiederaufnahmen pro Spielzeit abliefern, für eine neue Produktion brauche ich je etwa fünf Wochen zum Einstudieren und für die Wiederaufnahmen drei bis vier. Hinzu kommen die Aufführungen.

Sie dirigieren raumgreifend, mit viel Körpereinsatz. Ihr Job sieht nach Schwerstarbeit aus.

Dirigieren ist in der Tat ein Fitnesstraining. Es hilft, wenn der Rücken flexibel ist und die Schultern frei sind. In meiner Jugend habe ich häufig Sport getrieben, heute gehe ich spazieren, wenn ich ein wenig Freizeit habe.

Sie tragen eine einfache, kragenlose, schwarze Hemdjacke anstelle eines festlichen Fracks. Warum?

Ich schwitze stark. Erst Unterwäsche, darüber ein Hemd, ein Gilet, dann der Frack und zu guter Letzt noch eine Fliege um den Hals – das sind viel zu viele Schichten für mich. Aber wenn es die Situation verlangt, trage ich selbstverständlich einen Frack.

Haben Sie ein Ritual, bevor Sie auf die Bühne treten? Ihr Kollege Christian Thielemann gönne sich bei grosser Nervosität eine Beruhigungspille. Pianist und Dirigent Vladimir Ashkenazy steckte Gerüchten zufolge vor Auftritten den Kopf unter den Pullover seiner Frau.

Ich bin nicht nervös. Mit Lampenfieber wäre mein Beruf eine Tortur. Aber ich muss mich in Ruhe vorbereiten. Dafür reserviere ich mir den ganzen Tag, für eine fünfstündige Oper sogar noch den Nachmittag des Vortags. Auch wenn es sich bereits um die siebte Aufführung handelt, studiere ich nochmals alles Takt für Takt.

Die grossen Messen der Barockmusik fehlen noch in Ihrem Repertoire.

Bachs monumentale Meisterwerke kriegen einige meiner Kollegen besser hin als ich, dafür zolle ich ihnen allergrössten Respekt. Man muss seine Grenzen akzeptieren. Es ist nicht das Sakrale, ich dirigiere ja auch Beethovens «Missa solemnis» oder «Ein deutsches Requiem» von Brahms. Es sind die barocken, verzierten Skalenläufe: Mit meinen grossen Händen und den langen Armen ist es schwierig, Goldschmiedekunst zu fabrizieren, die feinen Goldfäden zu weben. Wissen Sie, ich vergöttere diese Musik. Früher oder später wage ich mich an die «Matthäus-Passion», dieser Herausforderung entziehe ich mich nicht. Aber es braucht eben eine wahnsinnige Delikatesse im Detail, eine extreme Präzision.

Sind Sie als Italiener zu ungestüm?

Klar, ich bin ein Südländer, ein mediterraner Charakter (lächelt). Beethoven beispielsweise ist Energie, Kraft, manchmal auch Grausamkeit und Arroganz, dann wieder unglaublich zart. Die letzten drei Jahre habe ich mich Anton Bruckners Sinfonien genähert, dabei dachte ich bis dahin, ich hätte nicht genug Geduld für den österreichischen Romantiker. Bruckner braucht viel Raum. Ich musste lernen, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Vielleicht hat das mit Reife zu tun? Bei Puccini nehme ich das Schwelgerische sogar raus, mit zu viel Zucker wird die Musik unglaubwürdig, wie eine Zabaglione mit zu viel Marsala: beim ersten Bissen fantastisch, dann zu süss. Mit der richtigen Quantität Feuer wird daraus aber das exquisiteste Dessert.

«Musik ist eine Obsession», sagen Sie. «Sie lässt mich nie los, eigentlich bin ich nie entspannt.»

Das ist so, ständig ist sie in meinem Gehirn präsent. Ich führe kein normales Leben. Manchmal wünsche ich mir Routine: morgens aufzuwachen und den Tag durchorganisiert und geordnet zu verbringen. Während der Pandemie durfte ich das erleben. Ich duschte, frühstückte, danach Partitur-Studium, es war wundervoll. In meiner Bibliothek warten noch so viele Partituren darauf, dass ich mich ihrer annehme.

Sie leiten auch das National Symphony Orchestra in Washington DC und sind erster Gastdirigent des London Symphony Orchestra. Fühlen Sie sich von Ihren vielen Engagements manchmal unter Druck gesetzt?

Gar nicht. Natürlich, nach einem Probentag mit neun Stunden bin ich erschöpft, aber wenn ich in der Nacht gut schlafe, und das tue ich, kann ich am nächsten Tag erfrischt weitermachen.

Wie fühlen Sie sich nach einem Konzert?

Voller Freude, wenn alles einwandfrei geklappt hat. Und befriedigt, weil eine grosse Arbeit erledigt ist. Als ich meine erste «Rheingold» dirigierte, war die letzte halbe Stunde schmerzhaft: Ich hatte schon zwei Stunden hinter mir, konnte nichts trinken, mich nicht hinsetzen, ich gab und gab, und wahrscheinlich gab ich zu viel. Um durchzuhalten, musste ich mir selber sagen, «nimm dich zurück, atme», ich reduzierte meine Bewegungen. Das hat mich gerettet. Seine Kraft einzuteilen, lernt man nicht bei den Proben.

Jetzt haben Sie die noch viel länger dauernde «Walküre» vor sich.

Ja, aber es gibt zwei Pausen. Dann gehe ich hinauf in mein Büro, setze mich ganz ruhig aufs Sofa, trinke ein wenig Wasser und nehme ein paar Traubenzucker zu mir

Was ist Ihre Mission als Musiker?

Mission ist ein grosses Wort. Musik ist die Sprache der Gefühle. Sie lehrt einen, zuzuhören und offen zu sein für Menschen und Ideen. Was mich ängstigt, ist Ignoranz. Wenn man nicht weiss, woher man kommt, weil man seine Wurzeln nicht kennt. Wer keine Wurzeln hat, fürchtet sich vor allem, weil er sich in nichts wiedererkennt. Wir müssen die Neugierde in den Leuten provozieren, wer neugierig ist, sucht Informationen und Lösungen, wer nicht neugierig ist, dem ist alles egal.

Auch der russische Diktator präsentiert sich als grosser Musikliebhaber. Warum hat die Musik keinen Effekt auf sein Herz?

Viele Diktatoren lieben Musik: Mussolini beispielweise war ein äusserst eleganter Geiger. Ich denke, wenn man die Macht über alles stellt, wenn man also die Liebe verflucht, dann erlebt man die Götterdämmerung. Wenn Sie nur mächtig sein wollen, keinen Respekt, keine Toleranz leben, werden Sie alles verlieren. Dieses Risiko gilt nicht nur für Diktatoren, sondern für jeden Einzelnen von uns

Wenn Sie zutiefst traurige Werke aufführen, wie bewahren Sie sich davor, selber vor Rührung zu kollabieren?

Man darf nicht zusammenbrechen. Beim Dirigieren kommen drei Elemente zusammen: Führen, Reagieren und Kontrollieren. Aber wenn ich ein Konzert eines Kollegen besuche und es aussergewöhnlich gut ist, bin ich zutiefst berührt. Tränen fliessen aber nur, wenn ich allein daheim eine grossartige TV-Übertragung sehe, dann rührt mich das Engagement der Musiker, wie sie ihr Talent für etwas Grösseres zur Verfügung stellen, unglaublich. Ich denke, wenn es in der Welt mehr Musiker gäbe, sie wäre ein besserer Ort. In der Musik muss man dienen, nicht sich selbst, sondern dem Komponisten und seinem Œuvre.

Womit soll jemand beginnen, der sich zum ersten Mal an Klassik wagt?

Man soll hören, was immer einem gefällt, aber man soll wirklich hinhören. Ich schlage Mozart vor und Schubert, kurze Stücke. Der erste Satz von Mozarts g-Moll-Sinfonie Nr. 40 dauert sieben Minuten. Sieben Minuten sind für jemanden, der es nicht gewohnt ist, zuzuhören, unerträglich lang

Sie wurden in Monza geboren, die Gegend ist berühmt für Autorennen. Der Lärm von Sportboliden ist wahrscheinlich eher weniger nach Ihrem Gusto?

O doch, doch, ich liebe Autos und die Formel eins! Live habe ich noch nie ein Rennen gesehen, aber als Junge durfte ich mal beim Training zuschauen, das war unglaublich aufregend.

Ihr Vater war ein Chorleiter, sind Sie durch ihn zur Musik gekommen?

Er war ein Amateurmusiker, und wir hatten ein Klavier daheim, weshalb ich als Kind mit Klavierunterricht begann. Neben dem Konservatorium absolvierte ich eine Ausbildung zum Elektrotechniker. Bei uns daheim war man der Auffassung, ich sollte neben der Musik etwas «Seriöses» lernen.

Inzwischen sind Sie ein weltweit gefeierter Star. Was macht Sie abseits vom Dirigentenpult am glücklichsten?

Wenn mich ein Kind grundlos anlächelt. Das rettet meinen Tag. Meine Frau und ich haben keine Kinder bekommen.

Ihr Vorgänger Fabio Luisi hatte eine zweite Leidenschaft, er kreierte Parfums. Pflegen Sie auch eine geheime Passion?

Als ich einzog, hing noch der Duft in der Luft, Fabio hat hier auf absolut professionellem Niveau seine Aromen gemischt (lacht). Ich bin ein neugieriger Mensch, ich interessiere mich für alles Italienische, das auch für den Rest der Welt von Bedeutung ist. Unsere Küche, den Wein, Geigenbau … Und ich bin ein hervorragender Risottokoch, Risotto kann ich wirklich gut.

Wird man als leidenschaftlicher Mensch geboren?

Wir alle haben viel mehr Talente, als wir meinen. Als Kinder sind wir fähig zu allem. Picasso sagte sinngemäss: Bis ein Kind vier oder fünf ist, kann aus jedem ein Genie werden. Danach wird es ruiniert. Eigentlich sollte jeder ein Künstler sein. Ein Künstler seines eigenen Lebens. Danach sollte man versuchen zu leben.

«Wenn es in der Welt mehr Musiker gäbe, sie wäre ein besserer Ort.»

Gianandrea Noseda, Dirigent

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