Als Shootingstar der Theaterszene werden Sie von vielen Bühnen buchstäblich gejagt. Nach welchen Kriterien wählen Sie unter den Angeboten aus?
Ich bin gern dort, wo ich unterstützt werde in meiner Vision. Und da kann auch der gute Ruf eines Hauses eine Rolle spielen.
Gleichzeitig heisst es, Hollywood grapsche bereits nach Ihnen. Wann fällt Ihr Widerstand?
Der ist schon gefallen. Ich habe für Netflix bereits einen Film in diesem Umfeld gedreht. Und weitere Filmprojekte, über die ich allerdings noch nicht sprechen darf, sind aufgegleist. Die künstlerischen Herausforderungen sind da keineswegs geringer als in meinen übrigen Tätigkeitsbereichen.
Ihren Ruf als Wunderknabe haben Sie sich zuerst im Theater erworben, vor allem mit grossartigen Geschichtentableaus, die oft vier bis sechs Stunden dauern. Was muss ein Stoff in sich haben, damit er Sie anspringt?
Eine klare Bedeutung für die Gegenwart. Er muss unsere Gesellschaft spiegeln können und uns mit ihr konfrontieren. Theater ist die politischste Kunstform, die es gibt. Ich überprüfe mein Bücherregal permanent auf seine Gegenwartstauglichkeit. Und täglich lese ich mindestens drei Stunden Zeitung. Aus dieser Verbindung mit den alten Stoffen entstehen meine Geschichten.
«Ich schaffe einen Spielraum, wo sich alle sicher fühlen und Risiken eingehen. Wo sie Eitelkeiten und Scham zu Hause lassen können.» – Simon Stone, Regisseur
Sie sind kein Stücke-Zertrümmerer, wie es andere Regisseure vorexerziert haben. Ihre Spezialität besteht vielmehr darin, diese grossen, kanonisierten Stoffe zu «überschreiben», sie in eine sehr heutige, freche, tabulose Sprache zu übersetzen und in einen radikal realistischen Gegenwartskontext zu stellen. Wie verhindern Sie, dass dabei – wie einzelne Kritiker beklagen – die Kraft und die Poesie der Originalsprache verloren gehen? Oder ist das für Sie ein kalkulierter und verschmerzbarer Verlust?
Es geht immer etwas verloren. Jede noch so getreue Übersetzung aus der Originalsprache ist schon ein Verlust. Wenn ein Werk zum Klassiker wird, kommt oft die zeitgenössische Stossrichtung abhanden, die es in seiner Zeit hatte. Klassiker sind in ihrer Entstehungszeit meist sehr radikale Werke. Mit meinen Bearbeitungen will ich die ursprüngliche Radikalität eines Werkes in der Jetzt-Zeit erlebbar machen. Theater findet immer im Jetzt statt.
Ihre Inszenierungen haben in ihrer Mischung aus banalen Alltagsreflexionen, seelischer Tiefenforschung und dem plötzlichen Einbruch von Katastrophen oft etwas Rauschhaftes. Selbst der obligate Kater bekommt bei Ihnen meist etwas Schwebendes. Mister Stone, wie machen Sie das?
Ich finde das Schreckliche herzzerreissend. Mein Ziel ist aber, dass man sich verliebt in die Schauspieler, weil sie so ehrlich sind im Umgang mit Schmerz und Freude. Man muss diesen Schmerz ansprechen. Wie in einer Therapie – danach fühlt man sich leichter. Es ist eine Befreiung, weil er wirklich stattgefunden hat. Die klassische Katharsis.
Gewisse Gefahren, die Stones Hyperrealismus mit sich bringen, sind nicht zu leugnen. Wenn die Gegenwart so direkt und fast manisch in alles einbricht, droht vielleicht auch eine Spur von Geheimnisverlust. Es liegt alles so überdeutlich vor Augen, das kann etwas platt erscheinen – wie im Reality-TV oder in einer Seifenoper, weils ja oft auch lustig wirkt. Beim Blick aufs Ganze einer Stone-Inszenierung überwiegt aber immer eine grosse Ernsthaftigkeit, eine starke Haltung der Empathie, die nicht ins Boulevardeske abdriftet.
In Ihren Arbeiten werden oft die Klassenverhältnisse in unserer Gesellschaft kritisch gespiegelt. Was läuft falsch in unserem Zusammenleben?
Wir hören einander nicht mehr zu. Es gibt eine tiefe Spaltung in fast allen gesellschaftlich wichtigen Fragen. Es fehlt an Versuchen, aufeinander zuzugehen. So können keine Lösungen gefunden werden.
In Simon Stones künstlerischem Schaffen ist diese Spaltung meist eine zwischen den Klassen und zwischen den Geschlechtern. Ein Grundmotiv, gegen das er anzuspielen scheint, ist die Ungleichheit zwischen Menschen. Drastisch und bildkräftig kommen gleich beide Konfliktlinien in seiner Inszenierung der Oper «Wozzeck» von Alban Berg an der Wiener Staatsoper zum Ausdruck. Stone zeigt den Teilzeitbarbier Franz Wozzeck als Deklassierten, als Vertreter des heutigen Prekariats auf dem Arbeitsamt, beim Obdachlosentreff. Der Arzt missbraucht ihn als diätologisches Versuchskaninchen, singend lässt der Gepeinigte eine Darmspiegelung über sich ergehen. Aber Stone hängt den Opfercharakter Wozzecks auch nicht zu hoch, sondern entlarvt seinen Mord an Marie als Femizid aus verletzter Männlichkeit.
Generell machen Männer keine gute Figur in Stones Inszenierungen. Sie sind Weicheier, Grosssprecher, Versager – was männliche Kritiker nicht selten etwas zu kränken scheint. Die verzweifelten Frauenfiguren in Stücken wie «Lucia», «Yerma» oder «Medea» macht er hingegen stärker, als wir sie bisher gekannt haben, lässt sie nicht nur in Wut, Leid und Tränen versinken. Die Genderdebatte ist bei Stone auf der Bühne immer präsent und reizt oft zu kräftigem Gelächter. «Wann wurde in diesem Drama je so gelacht?», heisst es dann fast vorwurfsvoll in den Rezensionen.
Zurück zum Theatralischen: Was ist für Sie die Todsünde beim Inszenieren?
Überhaupt von der Existenz von Todsünden auszugehen, das ist die grösste Gefahr. Es gibt tausend verschiedene Wege. Man muss zu sich selber ehrlich sein und immer neue Wege finden, Stillstand vermeiden. Ja, vielleicht wäre Stillstand oder reine Wiederholung eine Todsünde.
«Bevor ich das erste Wort schreibe, steht da zuerst ein Bild, wo das alles spielen soll.» – Simon Stone, Regisseur
Eine alte Theaterweisheit besagt, ein Regisseur überlebe durchaus einen Misserfolg beim Publikum. Und auch eine durchgehend schlechte Presse koste nicht seinen Kopf. Aber er überlebe es nicht, wenn das Ensemble nicht gern mit ihm arbeite. Warum wollen alle, auch die grössten Stars, bei Ihnen spielen?
Das müssten Sie andere fragen. Aber klar, die Schauspieler sind das Wichtigste in meiner ganzen Arbeit. Sie stehen im Zentrum.
Selbst jene, denen Ihre Katastrophenobsession missfällt, sind durchs Band begeistert vom Fest für Schauspieler, das Sie regelmässig entzünden. Wie entfesseln Sie die Akteure zu solch unbändiger Spiellust?
Man schafft einen Spielraum, einen Ort, wo sich alle sicher fühlen und wo sie Risiken eingehen, die sie sonst nie eingehen würden. Wo sie Eitelkeiten, Ängste, Scheu und Scham zu Hause lassen können.
Als ikonisch werden auch immer wieder die Bühnenbilder Ihrer Produktionen gelobt. Wie viel Einfluss nehmen Sie auf deren Gestaltung?
Bei mir beginnt alles mit dem Bühnenbild. Bevor ich das erste Wort schreibe, steht da zuerst ein Bild, wo das alles spielen soll. Ich kann erst dann mit dem Schreiben beginnen. An der Realisierbarkeit dieser Vision sind dann ganz viele Spezialisten beteiligt.
Oft sind diese Bühnen raffiniert geformte, modernistische Glaskästen, die sich wie ein Karussell drehen, immer neue Facetten zeigen und überraschende Einblicke ermöglichen. Das passt kongenial zu Stones Erzählweise, die mit dem Parallelspiel und den schnellen Wechseln zwischen verschiedenen Spielorten an die Schnitttechnik des Films erinnert. Und es bewirkt ein rasantes Tempo, das dennoch nicht gehetzt wirkt. Aber man muss auch im Publikum immer auf Draht sein.
Bei den viel gerühmten «Drei Schwestern» in Basel ist dieser gläserne, sich immer drehende Kubus ein Ferienhaus, in dem die Sehnsüchte der Menschen ganz im Tschechow-Sinn schmerzlich zerschellen. Bei der sechsstündigen Horváth-Kompilation «Unsere Zeit» am Münchner Residenztheater bildet ein hyperrealistischer Tankstellen-Shop den Treffpunkt innerlich unbehauster Menschen, aus denen nach und nach ihre Lebenskatastrophen herausbrechen. Beim Gorki-Zusammenschnitt «Komplizen» am Wiener Burgtheater dreht sich die lichtdurchflutete Fabrikantenvilla – bis die Farbbeutel der aufständischen Arbeiter an die Glasfassaden klatschen.
Was reizt Sie als Spielwütigen eigentlich an der im Vergleich zum Schauspiel doch oft etwas steifen Oper? Da ist durch die Musik ja viel mehr Unverrückbares vorgegeben, das sich nicht so leicht überschreiben lässt.
Der Text eines Stücks kann sehr schnell altmodisch werden. Wie wir sprechen, ändert sich alle zwanzig, dreissig Jahre. Die Musik hat dieses Problem nicht, man ist sofort drin in einem zeitlosen Verständnis. Es entsteht nicht diese Spannung zwischen Text und Inszenierung. Das empfinde ich als grosse Freiheit.
In der Oper gibt es gerade bei den grossen Stars auch diesen Stimmenfetischismus, der das Theatralische in den Hintergrund zu drängen droht. Was unternehmen Sie als Regisseur dagegen?
Solange man dabei auch gut spielen kann, ist alles in Ordnung mit den tollen Stimmen. Ich werde permanent von grossartigen spiel- und sangesfreudigen Sängerinnen und Sängern regelrecht beschenkt.
Wo liegt Ihr Hauptinteresse bei Ihrer jüngsten Arbeit, der Oper «Die Teufel von Loudun» an der Bayerischen Staatsoper – ein grosser, sexuell konnotierter Hexenprozess gegen einen Priester aus dem 17. Jahrhundert samt heftigem Exorzismus-Exzess bei den erotisierten Nonnen?
Ich habe das Werk von Krzysztof Penderecki selbst vorgeschlagen. Ich liebe diese unglaubliche Musik. Und die Dramaturgie ist ohne Vergleich. Die ständigen schnellen Ortswechsel – vom Sextraum raus auf die Strasse und gleich rüber in die Kapelle – das entspricht mir sehr.
Der Stoff der «Teufel von Loudun» beruht auf historischen Tatsachen aus dem 17. Jahrhundert und wurde von Aldous Huxley 1952 zu einem Roman verarbeitet. Ähnlich wie in Arthur Millers «Hexenjagd» ufern Intrigen, Verleumdung und Sexualneid zu Massenhysterie und Machtmissbrauch aus, diesmal in einem Nonnenkloster. Simon Stone lässt sich die Chance zu realistischer Drastik nicht entgehen. Exorzismus und Folterungen erinnerten den Kritiker der «Süddeutschen Zeitung» an einen Horrorfilm aus den 1970er-Jahren, und als es zu Gruppensex kommt, soll das bei älteren Zuschauern zur Schnappatmung geführt haben. Der Deutschlandfunk berichtete, ein halbes Dutzend Leute sei während des Abends kollabiert und die Ärzte hätten alle Hände voll zu tun gehabt. Die «NZZ» allerdings vermeldete überrascht, dass im starken Schlussapplaus kein einziges Buh erklungen sei. Vielleicht waren alle Stone-Skeptiker schon gegangen – oder schlicht zu erschöpft?
Warum sind eigentlich die Honorare für Opernregie meist höher als jene für Schauspielregie?
In der Oper kostet einfach das Ganze mehr. Bei den hoch bezahlten Stimmenstars darf auch die Regie etwas mehr kosten, auch wenn der Regisseur nicht gleich viel verdient. Es ist schlicht eine Frage der Relationen.
Stellen wir uns kurz das Schreckliche und Unvorstellbare vor: Was wären Sie geworden, wenn es auf dieser Welt keinerlei Performing Arts geben würde?
Ich glaube, ich wäre in einer solchen Parallelwelt gern Architekt geworden. Ich folge auf Instagram vielen von ihnen und schaue mit grossem Vergnügen zu, was sie so machen. Diese Leidenschaft hat auch einen direkten Bezug zu meiner jüngsten Münchner Oper «Die Teufel von Loudun»: Der Kirchenraum ist vom berühmten japanischen Architekten Tadao Ando inspiriert.
«Ich muss viel reisen, unterwegs sein, neu geprüft werden, in einem neuen Land, mit einer neuen Arbeit.» – Simon Stone, Regisseur
Worin liegt für Sie der tiefste Antrieb, der Grundimpuls, dass Sie Ihr Leben den darstellenden Künsten widmen?
Da gibt es mindestens zwei. Für mich war sehr prägend, dass ich in Basel aufgewachsen bin – wegen der Fasnacht. Das Verkleiden, die Masken, der musikalische Wirbel in allen Gassen, in der ganzen Stadt, das hat mich fasziniert. Da hat man Theater quasi schon im Blut. Und dann sind meine Eltern, beides Naturwissenschaftler, sehr früh mit mir ins Theater gegangen. Ein grosses Glück.
Man soll einen Künstler nie nach seiner liebsten Arbeit fragen, weil fast alle antworten: die nächste. Ich frage Sie dennoch: Sticht da nicht eine hervor, die Ihnen, aus welchen Gründen auch immer, besonders am Herzen liegt?
Oh, es gibt in jedem Land Lieblingsarbeiten. Es ist jeweils der Moment, wenn man so richtig zum Publikum gefunden hat. Dieses schöne Gefühl, angekommen zu sein. Und an jedem Ort wieder neu anzufangen. Da hat Basel schon eine ganz besondere Rolle gespielt. Hier bin ich mit «Engel in Amerika» gestartet, und dann kamen mit meiner ersten Oper «Die tote Stadt» und später «Drei Schwestern» von Tschechow, wo ich erstmals diese Parallelgespräche in mehreren Räumen ausprobiert habe, innerhalb eines einzigen Jahres zwei weitere schöne Erfahrungen hinzu.
Zum Risiko der Kunst gehört auch das Scheitern. Wo war das für Sie allenfalls besonders schmerzlich?
Das ist komplex. Vielleicht war mal die Zusammenarbeit während einer Produktion schwierig – aber dann wird das Stück doch ein Erfolg. Es bleibt trotzdem eine schmerzhafte Erfahrung. Oder die gemeinsame Arbeit war ganz toll, aber das Ergebnis ist nicht so berauschend. Alles ist immer ein Versuch. Mit diesen Unwägbarkeiten muss man umgehen können.
Achtung, eine ganz blöde Frage: Was hat Sie mehr beschäftigt in diesen schwierigen Zeiten, Corona oder der Krieg gegen die Ukraine?
Das kann man tatsächlich nicht vergleichen. Und doch sind beide miteinander verbunden. Es ist kein Zufall, dass die Russen jetzt nach Corona einmarschiert sind. Wenn jemand, der so viel Macht hat wie Putin, sich in diese Intensiv-Isolation begibt, dann geschehen verrückte Sachen. Je kleiner die Welt um einen Machtmenschen wird, desto arroganter sein Auftritt.
Wenn Sie auf Ihre letzten zwanzig Jahre zurückblicken, was hätten Sie Ihrem achtzehnjährigen Ich damals sinnvollerweise geraten?
Ich war mit achtzehn klüger und mutiger und neugieriger als jetzt. Man müsste die Frage also umkehren: Was würde mein achtzehnjähriges Ich heute mir raten.
Was verschafft Ihnen einen Ausgleich zu den Aufgeregtheiten der Theaterwelt?
Ich muss viel reisen, unterwegs sein, neu geprüft werden, in einem neuen Land, mit einer neuen Arbeit. Immer wieder Anfänger sein, keine Allmachtsfantasien entwickeln. Das entspannt ungemein.
Verraten Sie uns noch: Welches war in Ihrem bisherigen Leben der schlimmste und welches der schönste Moment?
Sie stellen eine Frage zu Leben und Tod. Mein schlimmster Moment war, als mein Vater, der mich zum Schwimmtraining begleitet hatte, vor meinen Augen an einem Herzinfarkt starb. Da war ich zwölf Jahre alt. Und mein schönster Moment kommt in diesem Jahr, wenn meine Frau und ich unser erstes Kind bekommen. Sterben und Werden, das ist das Leben.
Simon Stone ist ein unermüdlicher, ja getriebener Experimentierer. Wie viele andere Kulturschaffende hat aber auch ihn die Pandemie an Grenzen gebracht. Im letzten Jahr habe er eine Krise samt Panikattacken erlebt, bekennt der 38-Jährige: «Ich hatte sieben Produktionen während der Pandemie, die nicht rauskamen, und dann kamen alle auf einmal.» Er habe begriffen, dass sich in ihm seit zehn Jahren Spannung und Stress aufgebaut haben und dass er darüber nachdenken müsse, wie er sein Leben leben wolle. «Jeder mag es, gefragt zu sein. Ich mag meine Arbeit wohl etwas zu sehr. Aber manchmal muss man sagen: Schluss, es ist Wochenende!»
Wir alle dürfen hoffen, dass Simon Stone der umtriebige Denker bleibt, der auf dem Experimentierfeld Theater weiterhin, wie er es einmal nannte, «das komplizierte Fleisch des Lebens» erforschen wird.
In der Spielzeit 2022/2023 sind die Inszenierungen von Simon Stone in folgenden Institutionen zu sehen: Bayerische Staatsoper München, Dutch National Opera Amsterdam, Finnish National Opera Helsinki, Opéra national de Paris, Residenztheater München, Royal Opera House London, Théâtres de la Ville de Luxembourg, Wiener Staatsoper.