Bolero: Sie sind mit Ihrer visuellen Kunst bekannt geworden. Ihre Arbeit für die Biennale Venedig dreht sich aber vor allem um Musik. Was hat Sie dazu inspiriert?
Latifa Echakhch: Im letzten Sommer vor der Pandemie war ich auf vielen Festivals und Konzerten. Manchmal habe ich mir zwei Konzerte pro Abend angehört, alles von Pop über experimentelle elektronische Musik bis hin zu Klassik. Mich interessierte dabei, wie das System hinter der Musik funktioniert: Warum sie uns so direkt beeinflusst, wie die Dynamik im Publi-kum zustande kommt, dieser aktive Moment der Kontemplation, und warum man sich nach dem Konzert so fühlt, wie man sich fühlt. In der Ausstellung möchte ich eine Erfahrung kreieren, der das System eines Konzerts zugrunde liegt. Man erlebt, wie die Zeit vergeht, ihre Zyklen, ihre Wiederholungen.
Ist Musik Neuland für Sie?
Nicht mehr ganz. Ich habe viel gelernt im Austausch mit Alexandre Babel, dem Komponisten und Musiker, mit dem ich die Biennale-Ausstellung erarbeite. Ausserdem habe ich wieder mit Klavierspielen begonnen und während eines Jahres Intensivunterricht genommen. Ich finde es faszinierend, wie sich beim Spielen die beiden Gehirnhälften verbinden, wenn man Noten liest und gleichzeitig die Tasten mit den Fingern beider Hände drückt. Ich betrachte die Biennale-Arbeit wie ein Werkzeug, um meine künstlerische Praxis neu zu überdenken. Ich verlasse damit meine Komfortzone: Musik ist für mich wie eine Fremdsprache, der ein anderes Vokabular, eine andere Grammatik, eine andere Philosophie zugrunde liegt. Ich nutze also die Gelegenheit, um so zu arbeiten, als wäre ich wieder zwanzig. Wie damals an der Kunstschule, als für mich alles neu war.
Was bedeutet Musik denn für Sie ganz persönlich?
Musik bringt einem Empfindungen ganz nahe. Sie hilft, einen Gedankenfluss zu entwickeln, ähnlich wie Yoga. Kürzlich sass ich auf meinem Balkon und hörte den Vogelstimmen zu. Die Vögel können ihre Partitur! Woher aber kennen sie sie? Geben es der Vater, die Mutter an ihre Kinder weiter? Ihre Lieder sind Teil eines grossen Zyklus, der die ganze Welt umspannt. Jeden Tag ganz früh am Morgen hört man dieselben Lieder der Amseln, der Meisen und der Blaukehlchen. Dann beenden sie die Oper und beginnen bei Sonnenaufgang von Neuem. Doch in Wirklichkeit singen sie durchgehend rund um den Erdball. Und wenn die Vögel zusammen fliegen, kennen sie die richtige Entfernung zueinander. Auch in der Musik ist alles eine Frage der Entfernung, wie man mit dem Raum umgeht. Es geht also eigentlich gar nicht um Kommunikation, sondern es ist alles eine Frage des Raums. Über diese Sachen schreibe ich ein Buch, das zur Biennale-Ausstellung erscheint.
Musik spielte schon in Latifa Echakhchs Elternhaus eine wichtige Rolle. 1974 in El Khnansa, Marokko, geboren, zog sie als Dreijährige mit ihrer Familie nach Aix-les-Bains in Frankreich. Ihr Vater, der im örtlichen Casino-Musiktheater arbeitete, war musikbegeistert. Wollte sich Echakhch mit ihm unterhalten, ging sie zu ihm in die Küche, und dann hörten sie gemeinsam Musik auf seinem Plattenspieler, von arabischer Musik über Bach, abstrakte äthiopische Musik bis zu Édith Piaf und Carlos Santana.
Der Weg zur Kunst hingegen war nicht selbstverständlich. Sie war ein stilles, sehr schüchternes Kind, das viel zeichnete, doch die Mutter liess sie nicht das musische Gymnasium besuchen. Stattdessen beschied sie ihr, sie seien nicht von Marokko nach Frankreich ausgewandert, damit ihre Tochter Künstlerin würde. Ärztin, Juristin oder Lehrerin, etwas Nützliches sollte es sein. Während des Gymnasiums wollte Echakhch Lehrerin werden, betrieb Leistungssport, rannte Langstrecken, aber der Wettbewerb lag ihr nicht. Zwei Wochen vor dem Baccalauréat sass sie in ihrem Zimmer und zeichnete, und eine Freundin ihrer Mutter, die gerade zu Besuch war, sagte, es gebe da eine Schule für «Leute wie Latifa», die École supérieure d’art in Grenoble. Die Mutter willigte ein. Es war der Moment, in dem sich für Echakhch eine Türe zu einer andern Welt öffnete. Den Rest des Lebenslaufs listen ihre vier Topgalerien Dvir (Tel Aviv), Kamel Mennour (Paris), Pace (New York) und Kaufmann Repetto (Mailand) auf: Studium in Grenoble, dann Abschluss an der École nationale supérieur des beaux-arts de Lyon.
Für die Aufnahmeprüfung hatte sie sich, die zuvor nie in einem Museum war, geflissentlich vorbereitet: Sie belegte zunächst an der Universität Grenoble ein Jahr lang Kunstgeschichtsvorlesungen und lernte im öffentlichen Kunstatelier das Zeichnen von Grund auf, Schulter an Schulter mit Senioren. Zeitgenössische Kunst sah sie zum ersten Mal im Alter von einundzwanzig Jahren. Es waren Neonarbeiten von Sylvie Fleury im Mamco in Genf.
Vom Kind marokkanischer Einwanderer zur international gefeierten Künstlerin, die die Schweiz, eines der reichsten Länder der Welt, an der wichtigsten internationalen Kunstschau repräsentiert: Was bedeutet das für Sie?
Inzwischen ist es ja zu einer Regel geworden, dass man nicht mehr über das Thema der nationalen Repräsentation spricht. Aber da die jeweiligen Kulturbehörden bestimmen, wer die Länderpavillons in den Giardini bespielt, kommt man nicht umhin, sich dennoch die Frage zu stellen, wer hier was repräsentieren soll. Bei einem Namen wie meinem kann man über Immigration sprechen, über die Tatsache, dass ich eine Frau bin. Man kann genauso gut darüber sprechen, was es für die Schweiz bedeutet, mich ausgewählt zu haben. Aber ehrlich gesagt, ist alles viel einfacher: Es gab einen Wettbewerb, zu dem sechs Künstler eingeladen worden sind, man musste innerhalb von nur sechs Wochen ein Projekt vorlegen, und ich gewann.
Sechs Wochen Zeit ist nicht viel. Wie gingen Sie vor?
Ich machte es wie immer, wenn ich zu einer Ausstellung eingeladen werde: Ich schaue zuerst in mich hinein und erkunde, was mich in dem spezifischen Moment berührt und wie sich die Welt um mich herum anfühlt. Pandemie, Terrorismus, Krieg, all das beeinflusst meine Arbeit. Ich kann das dystopische Gefühl der Gesellschaft spüren, ich fühle, wenn die Menschen verzweifelt sind.
Sie versuchen also, eine Art Gesellschaftsanalyse zu materialisieren?
Vielleicht. Ich versuche jedenfalls, zu verstehen, wie und warum ich mich fühle, wie ich mich fühle. Als ich ein Kind war, habe ich irgendwann verstanden, dass ich überempfindlich bin. Ich habe gesehen, dass die Leute nicht ähnlich reagieren wie ich. Was man daraus mit Materialien machen kann, fasziniert mich. Kunst gibt einem eine grosse Freiheit. Als Künstlerin steht man mitten in der Gesellschaft, aber gleichzeitig auch ausserhalb. Das kommt mir sehr entgegen.
Viele Ihrer Arbeiten handeln von Abwesenheit, vom Verschwinden. Spielt da Ihr eigener Hintergrund als Kind marokkanischer Eltern, die ihre Heimat verlassen haben, mit hinein, oder handelt es sich um soziopolitische Recherchen?
Wahrscheinlich beides. Ich nutze meinen persönlichen Hintergrund, um etablierte Systeme infrage zu stellen. Wenn man mich als marokkanische Künstlerin definieren will, kann ich entgegnen, dass ich kein Arabisch spreche. In Frankreich nimmt man mich aber auch nicht als Französin wahr. Oft sagen mir Leute, wie toll es sei, zwei Kulturen zu haben. Dabei ist es eher so, dass ich zwischen zwei Stühlen sitze. Wozu aber brauche ich einen Stuhl? Ich kann mich genauso gut auf den Boden setzen. Ich benutze also meinen persönlichen Hintergrund lediglich, um über Fragen der Identität nachzudenken, nicht aus autobiografischen Gründen. Ich bin viel zu schüchtern, um mich in den Vordergrund zu schieben.
Wie weit war Ihnen denn bewusst, dass Ihre Wurzeln im französischen Alltag getilgt wurden? Wie wurden Sie sich Ihrer Identität bewusst?
Ich kann nur so viel sagen: Als Kind oder Teenager will man eine eindeutige Identität, und ich habe unter all den Paradoxen gelitten, die ich in mir trage. Ich war die meiste Zeit allein und wusste nicht, wie ich mich in der Gruppe verhalten sollte. Meine Art, zu leben, bestand darin, zu beobachten. Mein Bewusstsein änderte sich dann urplötzlich durch den Terroranschlag 1995 in der Pariser Metro. Es war die Zeit, als man jeden, der arabisch aussah und einen Rucksack trug, verdächtigte. Plötzlich blickten mich die Menschen auf der Strasse anders an. Es war die politische Veränderung um mich herum, die mich aus mir und meiner persönlichen Problematik heraustreten liess. Ich fing an, ins arabische Viertel in Grenoble zu gehen, suchte nach arabischer Musik. Aber die Händler sahen mich auch dort schräg an, weil sie erstaunt waren, dass ich bei meinem Aussehen kein Arabisch sprach.
Sie haben sich immer wieder künstlerisch mit politischen Verwerfungen auseinandergesetzt, etwa mit dem palästinensisch-israelischen Konflikt.
Ja, ich liess eine Partitur komponieren zu all den Jahreszahlen und Nummern der Uno-Resolutionen zum Israel-Palästina-Konflikt seit 1948. Die Komposition wird analog zu künftigen UN-Resolutionen fortgesetzt – so lange, bis der Konflikt gelöst wird.
Inwiefern glauben Sie, dass Kunst politisch oder sozial Veränderung bewirken kann?
Natürlich möchte man etwas verändern. Aber Kunst hat keine Superpower. Sie ist aber ein Weg, sich etwas gemeinsam bewusst zu machen. Der Künstler und die Betrachter können sich gemeinsam über die Welt, in der sie sich befinden, bewusst werden. Und Bewusstwerden ist der Anfang jeder Veränderung.
Info:
Die Biennale Venedig findet vom 23. April bis 27. November 2022 statt. Weitere Infos findest du hier. Mehr zur Künstlerin findest du auf ihrem Instagram-Channel.