Ich war vier Monate auf Long Island und habe Sonnenuntergänge gemalt. Diese Bildserie wäre ohne Lockdown nicht entstanden. So gesehen, war es eine positive Erfahrung, aber ich hatte auch den Luxus, dass ich mir diesen Rückzug leisten konnte.
Die Dimension der Zeit ist ein wichtiger Aspekt Ihrer Arbeit. Sehen Sie die Rolle der Kunst darin, die Menschen zu entschleunigen, sie in einen meditativen Zustand zu versetzen?
Jeder Künstler wünscht sich wohl, dass seine Kunst nicht übers Hirn, sondern übers Herz erfasst wird. Dass sie sich nicht über das Denken, sondern das Fühlen erschliesst, dass sie den Betrachter innehalten lässt. Dann findet eine Art Transformation statt, nach der man nicht mehr derselbe ist, der man war.
Sie schreiben auch Gedichte. Haben Kunst und Dichtung für Sie dieselbe Funktion?
Ein Gedicht ist wie Kunst: irrational. Ein gutes Gedicht muss man nicht verstehen. Man kann ihm einfach folgen und schauen, wo es einen hinführt. Es kreiert ein Vakuum, das sich nicht mit Vernunft, sondern nur mit Gefühl füllen lässt.
Vor der aktuellen Ausstellung haben Sie zusammen mit dem Belvedere Kinder eingeladen, Regenbogen zu malen. Möchten Sie Kinder zu Künstlern erziehen?
Kinder sind ja von Natur aus Künstler, die braucht man nicht dazu zu erziehen. Künstler wiederum zehren oft von ihrer Kindheit. «Your age and my age and the age of the rainbow» ist ein fortlaufendes Projekt, das ich 2011 begonnen und mittlerweile auch nach Rotterdam, Rom, San Francisco, Cincinatti, Miami und Moskau gebracht habe. Im Vorfeld der Ausstellung haben wir Primarschüler zwischen sechs und zwölf Jahren aus sechs österreichischen Städten eingeladen, ihre Bilder im Garten des Belvedere zu zeigen.
Sie kreieren selbst immer wieder Regenbögen und Sonnenuntergänge. Und sagten auch einmal, dass Sie für Ihre Kunst kindliche Motive benutzen.
Ich denke, meine Arbeit hat ihren Ursprung in Eindrücken aus meiner Kindheit. Ich bin in Brunnen, in der Innerschweiz aufgewachsen. Die Sommerferien verbrachte ich jeweils bei meiner Grossmutter in Matera in Süditalien. Zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: auf der einen Seite der blaue See und die grünen Wiesen, auf der anderen grau-brauner Stein.
Man hat den Eindruck, diese Dualität begleite Ihr ganzes Werk.
Richtig. Auf meiner Website teile ich meine Werke in Tag und Nacht ein. Die bunten Farben sind dem Tag zugeordnet, die Erdfarben, Bronze, Aluminium der Nacht.
Wie sehr war das konzeptionell geplant?
Mein Werk entwickelte sich aus sich selbst heraus, quasi indem ich es beobachtete. Der Einfluss der Kindheit sitzt im Unbewussten und wird einem erst im Nachhinein klar.
Wie eine Spinne an ihrem Netz spinnt Rondinone seit fast dreissig Jahren an seinem Œuvre: Jede Ausstellung, jedes Werk ist mit dem vorhergehenden verbunden und führt zum nächsten. Besucher erleben Déja-vus, wie man sie nur aus den eigenen Träumen kennt. Immer wieder kommen Fratzengesichter vor, Bäume und Spiegel, Vögel und Fische, Steinformationen, überdimensionale Glühbirnen, wehmütige Clowns. Zur Kunst kam Rondinone über Umwege. Der Sohn italienischer Immigranten brach die Ausbildung am Lehrerseminar in Rickenbach ab und lernte stattdessen töpfern in Südfrankreich. In die Kunst rutschte er, als er in der Zürcher Kunstbuchhandlung von Galerist und Verleger Pablo Stähli arbeitete. Dessen Galerie hatte auch den österreichischen Künstler Hermann Nitsch im Programm. Nitsch suchte einen Assistenten, Rondinone bekam den Job und zog nach Wien. Nach einem Jahr an der Akademie der bildenden Künste wechselte er an die Universität für ange-wandte Kunst, wo er Eva Presenhuber kennenlernte. Als diese 1989 die Zürcher Kunstgalerie Walcheturm übernahm und in einen Hotspot zeitgenössischer Kunst verwandelte, war Ugo Rondinone einer ihrer ersten Künstler.
Ende der 1980er-Jahre, als viele politische und aktivistische Kunst machten, malten Sie Landschaften. Wieso?
Ich studierte 1985 an der Akademie der bildenden Künste, auf dem Höhepunkt der Aids-Krise. Als mein damaliger Freund Manfred Welser innerhalb von drei Monaten am Virus verstarb, wurde mir bewusst, dass das Leben urplötzlich zu Ende gehen kann, und als Schwuler erwartete ich, der Nächste zu sein. So wollte ich den kurzen Rest meines Lebens nicht im Studio verbringen, sondern das Beste machen aus der mir verbleibenden Zeit. Ich begann, herumzuwandern, in der Natur und in der Stadt, wurde zum Flaneur. Dabei sind meine ersten Landschaften entstanden. Mit diesen Bildern wurde ich diplomiert. Ein Jahr später habe ich mit den Sonnenbildern begonnen. Diese Zielscheiben- oder Sonnenbilder mit den farbigen konzentrischen Kreisen wurden zu einer Art Markenzeichen. Man würde nicht denken, dass sie vom selben Künstler stammen. Die Tusche-Landschaften sind romantisch, fungieren als Fenster zur Vergangenheit. Die Kreisbilder schauen in die Moderne. Ich wollte Zeit und Raum darstellen. Zwei Koordinaten, die das Leben bestimmen.
Wenn ein nahestehender Mensch stirbt, hat man das Gefühl, man sei aus dem Leben gefallen. Inwiefern hat Sie die Kunst gerettet?
Kunst gibt einem die Möglichkeit, eine eigene Zeitlichkeit, ein eigenes Universum zu schaffen. Diese Freiheit half mir, mich wieder selber aufzubauen. Dabei hatte ein Buch, das ich als Jugendlicher im Lehrerseminar gelesen hatte, einen grossen Einfluss: «Gegen den Strich» von Joris-Karl Huysmans. In diesem Fin-de-Siècle-Roman setzt sich ein Erbe in ein Schloss ausserhalb von Paris ab, verschliesst Fenster und Türen und kreiert seine eigene Welt mit allem, was seine Sinne anregt: mit der perfekten Bibliothek, den schönsten künstlichen Blumen, dem betörendsten Parfum. Er baute sich sein eigenes Universum und isolierte sich von der Welt.
Ihre erste Ausstellung bei Eva Presenhuber war also ein Huysmans’sches Universum.
Jede darauffolgende auch. Als ich 1991 die Tusche-Landschaften zeigte, verriegelte ich die Schaufenster mit Holzlatten und schuf einen von der Aussenwelt abgeschotteten Raum. Seither begleitet diese Form von Isolation meine Arbeit.
Mit Ihren Ausstellungen erweisen Sie sich als raffinierter Verführer, Ihre Werke sind in Material verdichtete Poesie. Wie wichtig ist es Ihnen, durch pure Ästhetik zu verführen?
Verführung ist für mich ein Mittel, um Interesse zu wecken. Deshalb arbeite ich mit einfachen, archaischen Motiven, wie sie C. G. Jung in «Das Rote Buch» beschreibt. Gewisse Symbole, Kreise, Steinfiguren sind in jeder Kultur integriert. Es gibt Bezüge zu einem kollektiven Bewusstsein, das sich rational nicht erklären lässt. Mit dieser Symbolkraft arbeite ich. Die Landschaften, die Clowns, die Bäume, die in meinem Werk vorkommen, sind wie ein Alphabet, zu dem alle einen Bezug haben.
Mit ihrer Popularisierung ist Kunst auch zur Unterhaltung geworden. Sie hilft heute beim Standortmarketing von Städten, Luxusbrands schmücken sich mit ihr. Tut das der Kunst gut?
Gut ist, dass mehr Leute zur Kunst Zugang haben, speziell wenn sie im öffentlichen Raum steht. Ein Museumsbillett kostet schnell zwanzig Franken. Ich verstehe nicht, warum ein Museum Eintritt verlangt, wo es doch von öffentlichen Geldern finanziert wird. Warum kann man in der Schweiz öffentliche Sammlungen nicht kostenlos besuchen wie in London? Den Preiserlass hätte das Kunsthaus Zürich mit der Einweihung des Erweiterungsbaus einführen können. Leider fehlt Zürich diese Vision.
Ihrer Meinung nach kann Kunst also nicht populär genug sein?
Nehmen wir Christos Arc de Triomphe in Paris, ein gutes Beispiel, wie Kunst wirken kann. Es waren viele Leute dort, die gewöhnlich nicht ins Museum gehen, aber sie genossen das Erlebnis. Das ist wie wenn ein bekanntes Orchester in einem Park auftritt. Auch da kommen Leute in Scharen, die gewöhnlich nicht ins Konzert gehen – aus dem einfachen Grund, weil sie kein Eintrittspreis abschreckt.
Haben Ihre Eltern verstanden, dass Sie Kunst studieren wollten?
Zuerst waren sie enttäuscht. Sie waren so stolz, dass es ihr Sohn ins Lehrerseminar geschafft hatte. Aber sie haben mich immer unterstützt.
Wie war das, in den 1960er-Jahren als Secondo aufzuwachsen?
Ich habe meine Herkunft sehr zu spüren bekommen. Der systemische Rassismus in der Schweiz war real, und der ist noch nicht aufgearbeitet. Es gibt Fotodokumente, die Restaurantplakate zeigen, auf denen steht: «Für Hunde und Italiener verboten». Als mein Vater in die Schweiz kam, musste er in Baracken schlafen. Man nahm den Italienern den Pass weg. Inzwischen ist die Schweiz farbiger geworden. Man muss nicht mehr ein bleiches Gesicht haben, um Schweizer zu sein.
Manche Kinder von Immigranten sind ein Leben lang auf der Suche nach ihrer Identität. Was hat Ihnen geholfen, Ihren Weg zu finden?
Wahrscheinlich war es die Wurzellosigkeit. Ich pendelte von Kindesbeinen an zwischen zwei Welten. Deshalb fiel es mir leichter, die Schweiz zu verlassen.
Heute wird Ihre Kunst in den besten Galerien gezeigt und von den wichtigsten Sammlern der Welt gesammelt. Wie verändert der Erfolg das Empfinden?
Mit dem Erfolg ist es wie mit dem Essen: Man weiss, wie es schmeckt, wenn man es isst, aber kaum ist es vorbei, hat man schon wieder Hunger (lacht). Ich habe viel gelernt von meinem kürzlich verstorbenen Ehemann John Giorno, er war Buddhist und hat immer bescheiden gelebt. Ich habe meinen Lebensstil während meiner Karriere nicht verändert. Ich brauche keine schnellen Schlitten oder ein Haus in Gstaad. Erfolg ist ein Konstrukt und als solches Veränderungen ausgesetzt. Mir ist bewusst, dass es jeden Tag zusammenbrechen kann.
«Akt in der Landschaft», Ugo Rondinone
Museum Belvedere, Wien
bis 1. Mai 2022
Mehr Infos findest du hier.