Für den Flamingo braucht es Konzentration. Sich einfach irgendwo hinstellen, Hals lang, Bein hoch – nein, das geht nicht. Für den Flamingo braucht es mehr. Aber wenn man ihn beherrscht, dann gelangt man in Kontakt mit dem Universum. So wie Gerhard, der Protagonist in «Mit einem Fuss draussen» (2021, Voland & Quist), dem Debütroman der Schweizer Autorin Anaïs Meier (38). Gerhard ist ü50, lebt von Sozialhilfe. In seiner Vergangenheit hat er die Welt bereist, dann Zeitungen ausgetragen: «Jetzt sind es schon sieben Jahre, dass ich nicht mehr angestellt bin. Kurz habe ich versucht, mich selbstständig zu machen, aber ich gebe es offen zu, es hat nicht geklappt. In fast keiner Branche ist der Weg in die Selbstständigkeit so hart wie im Zeitungsvertragen. Nachdem ich von den grossen Medienhäusern eine Absage erhalten hatte, versuchte ich es ganzheitlich autark, indem ich die Zeitung selber schrieb, die ich vertrug. Man kann es sich vorstellen: Ein Belastungs-Burn-out liess nicht lange auf sich warten. Danach fand ich den Einstieg in den alten Beruf nicht mehr. Eine klassische Geschichte für die heutige Zeit.» Mittlerweile ist sein Universum der Park einer Kleinstadt, in dessen Mitte ein See liegt, nierenförmig und voller Blutegel, aber trotzdem das Herzstück seines Gartens Eden. Hier kommt er her, um sich via Flamingo-Yoga-Pose mit dem Universum zu verbinden und so, laut eigenen Angaben, die Welt im Gleichgewicht zu halten. Anerkennung gibt es dafür allerdings keine. «Niemals kommt einer und sagt ‹Danke Gerhard, das hast du jetzt aber gut gemacht, Supergerhard, du.›» In diesem Park, in diesem See entdeckt er eines Tages einen abgetrennten Fuss, der in einem farbig leuchtenden Turnschuh steckt. Und so beginnt die Geschichte, ein Kriminalroman, aber auch eine Liebesgeschichte und ein gesellschaftskritisches Zeugnis, das unbefangen zwischen Realität und Absurdität hin- und herschwingt.
Das Leben? Ist komisch
Anaïs Meiers Debütroman schubst den Rand der Gesellschaft liebevoll ins Zentrum.
Der Roman sticht aus der überwältigenden Masse an Neuerscheinungen, die jedes Jahr den Buchmarkt fluten, heraus. Nicht nur, weil das neongrüne Cover einen geradezu anspringt. Statt Nabelschau und Selbsterkenntnis, in der deutschsprachigen Literatur seit je gehegt und gepflegt, könnte man «Mit einem Fuss draussen» als absurden Realismus bezeichnen. Der Protagonist, eine skurrile Mischung aus Dr. Dolittle, MacGyver und Monk, findet und erfindet sich immer wieder neu. Dafür hat Anaïs Meier bereits den Kasseler Förderpreis Komische Literatur 2022 erhalten, beim Literaturpreis für Magic, Pop und Ewigkeit steht sie auf der Shortlist.
Eine Geschichte zu schreiben, in der ein abgetrennter Fuss in einem Turnschuh vorkäme, das wollte sie schon immer, schliesslich sei ihr Berufswunsch einst Privatdetektivin gewesen. «Ich habe mich dann nachmittagelang mit meinem Fotoapparat in Bäumen und Büschen versteckt und die Nachbarschaft fotografiert. Ich hatte eine Mission.» Welche, wusste sie zwar nicht genau, aber trotzdem! Und in Gerhard stecke ja auch einiges von ihr drin. «Deshalb musste ich ihm diese Momente im Buch einfach gönnen, wenn er sich als erfolgreicher Kommissär in wichtiger Mission wähnt. Das zu schreiben, hat ganz einfach Spass gemacht.»
«Mein Ziel war es, mich von starren Mustern loszuschreiben»
Zehn Jahre lang arbeitet Anaïs Meier an ihrem Debüt, befreit sich währenddessen von den Konventionen institutionalisierten Schreibens und schafft sich – und somit ihrer Hauptfigur Gerhard – ein eigenes Wirkungsfeld. Eines, das sich selbst konstituiert und sich dem gängigen und gängelnden Regelwerk des So-schreibe-ich-einen-Roman-Schreibens entzieht. «Als ich mit dem Text begonnen habe, ging es mir darum, mich auf eine spielerische Art von Genrevorgaben zu lösen. Mein Ziel war es, mich von den starren Mustern loszuschreiben, die mir an der Filmakademie in Ludwigsburg eingetrichtert wurden», erzählt Anaïs Meier. Das Studium in Ludwigsburg bricht sie dann auch ab und beginnt am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. «Ich wollte wieder einen frischen und vor allem freien Zugang zum Schreiben bekommen. So wie ich früher geschrieben habe. Mein eigenes Schreiben war für mich als Teenager die Möglichkeit, die festen Strukturen und Systeme um mich herum zu beschreiben. Aber eben ohne diese im Schreiben selbst zu reproduzieren.»
Die Idee für den Roman kommt ihr, als plötzlich ein Zettel an ihrer Wohnungstür hängt, auf dem steht: «Auch du Idiot sollst die Fehlläden anmachen!» (Ein genervter Nachbar.) «Unter meinen damaligen Nachbarn gab es einige Gerhard-Typen, und ich habe mir dann, ausgehend vom Zettel, eine Sprache und, ausgehend von der Sprache, den dazu passenden Menschen ausgedacht.» Der Zettel inspiriert Anaïs Meier, und sie recherchiert weiter, liest Flyer und Aushänge in Supermärkten, Leserbriefe von Lokalzeitungen sowie Website-Posts und Kommentare. Daraus extrahiert sie eine Sprache, die schliesslich zu Gerhard wird. Er benutzt Formulierungen wie «ins Internet surfen» oder «wegen wann», Wörter wie «verwundlich» oder «euphoristisch», und er sagt komische Dinge wie «Ich musste noch nie zum Zahnarzt, weil ich mir im Himalaja meine eigene dentale Methode ermeditiert habe».
Warum sich Menschen gegenseitig ausgrenzen
Während ihrer Zeit am Literaturinstitut in Biel liest Anaïs Meier die Kriminalromane von Helge Schneider und findet, dass dieses Genre genau richtig sei, um sich von «diesen bescheuerten Ludwigsburg-Sachen» zu lösen. Kommissär Gerhard – zum Kommissär ernennt er sich selbst, als er beschliesst, das Geheimnis um den abgetrennten Fuss im See zu lüften – und alle anderen Protagonistinnen und Protagonisten des Romans sind Figuren, von denen man sich normalerweise abwendet, sieht man sie auf den Bänken vorm Bahnhof, im Eingangsbereich von Einkaufszentren oder an Bushaltestellen sitzen. Arbeitslose, Sozialhilfeempfangende, Drogenabhängige oder Geringverdienende: «Wie ich [Gerhard] dort sitze, merke ich, wie mich die Leute dumm anschauen. Dass meine Traurigkeit wie in einem Zoo ausgestellt und von den Leuten angestarrt wird.» Warum sich Menschen gegenseitig ausgrenzen, hat Anaïs Meier schon immer interessiert: «Die vermeintlich normale Gesellschaft entscheidet, wer am Rand ist oder nicht. Und je nachdem, in welcher Gesellschaft man sich bewegt, wechselt das. Und es kommt natürlich darauf an, wie man den Rand der Gesellschaft definiert.» Aufgewachsen ist Anaïs Meier in einem Dorf im Schweizer Mittelland. «Dort gehört man dazu und kann sich danebenbenehmen, wenn man in einem soliden Schweizer Verein ist. Wenn sich allerdings jemand, der nicht so integriert ist, ähnlich danebenbenimmt, ist das sofort renitentes Verhalten.»
Zum Glück verzweifelt Kommissär Gerhard nicht am Schicksal, das ihm die Gesellschaft zugedacht hat, und besinnt sich auf einen situationsbedingten Pragmatismus: «Mit einem Fuss draussen, weiss man nicht, wo man steht. Man muss ihn einholen und genauer untersuchen.» Und Gerhard holt ihn ein, fest entschlossen, den Kriminalfall zu lösen. Vom Feind zum Freund werden ihm dabei eine opportunistische Ente mit Etepetete-Gehabe, des Weiteren eine Gruppe jugendliche Kiffer, deren Anführer Corsin stets Rollschuhe trägt und in einer Baugrube hinterm Park haust. Ausserdem die Securitas-Sicherheitsangestellte Rita Blüehler, eine rotwangige (Alkohol-, nicht Apfelbäckli!) Hundeliebhaberin, übergewichtig, mit Hang zu gewalttätigen Männern. Zu seinen Gegenspielern zählen eine kriminelle Schlägergruppierung, die im selben Haus wohnt, der Lokaljournalist Hausi Hinteregger und die Mitglieder des Vereins der Anglerfischer Schweiz. Letztere haben sich laut Gerhard «noch nie durch Intelligenz hervorgetan, nur durch Biertrinken und dumme Sprüche, den ganzen Tag». Sein persönlicher Erzfeind: Krückenpatrick. Im Verlauf der Geschichte grätscht ihm dieser nicht nur bei der Lösung des Kriminalfalls dazwischen, sondern entpuppt sich auch noch als Ex-Freund von Rita Blüehler. Und wie man sich so Zeile um Zeile an Gerhards Seite durch den Roman ermittelt, wird immer klarer, dass die Randzone des einen der Lebensmittelpunkt des anderen ist.
Ein Musterbeispiel für den liberalen Selbstoptimierer
Fantasie und Realität rücken im Roman ganz nah zusammen, und trotzdem wirken die Figuren und das Geschehen in keinem Moment unglaubwürdig. Aber ist die Realität denn nur noch zu ertragen, wenn man sie ad absurdum führt? Kommissär Gerhard ist nicht nur knallharter Ermittler, sondern auch ein ironisches Zitat des modernen Weiterbildungsbürgertums. Mit Schirmmütze, Charme und selbst konstruierter Sonnenuhr ist er ein Musterbeispiel für den liberalen Selbstoptimierer: Er macht Yoga, trinkt Thymian- und Salbeitee, ist viel an der frischen Luft unterwegs und sparsam im Umgang mit Ressourcen – gekauft wird nichts, alles, was er braucht, bastelt er sich selbst. Anaïs Meier ist allerdings clever genug, auf die Moral von der Geschichte zu verzichten, denn es gilt schliesslich, einen Fuss zu bergen und den dazugehörigen Restmenschen zu finden. «Das, was die Menschen in der Schweiz dringend optimieren müssen, ist ihre Empathiefähigkeit. Und die hat eben gerade nicht mit dem Selbst zu tun. Oder doch: Denn man wird ein vernünftigerer, intelligenterer und attraktiverer Mensch, wenn man sich für jene interessiert, die weniger privilegiert sind als man selbst», so die Autorin. Oder in den Worten von Gerhard: «Aber abgesehen von Schuhen und Kleidergeschmack: Das war ein Mensch!»
Anaïs Meiers nächster Roman handelt übrigens von Do-it-yourself, Heiratsschwindelei, Selbstbetrug und Zimmerbrunnen. Arbeitstitel: «Hobby». Noch Fragen?